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Debatte: Welches Wissen ist wie viel wert?

Bislang bauen die dominierenden Zukunftsvisionen auf Prämissen des Globalen Nordens auf, indigene Wissensmodelle wurden lange Zeit ignoriert. COVID-19, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen und die Klimakrise zeigen: Das muss sich ändern.

Ein Teilnehmer bei der Eröffnung der achtzehnten inhaltlichen Sitzung des Ständigen Forums für indigene Fragen.
Ein Teilnehmer bei der Eröffnung der 18. Sitzung des Ständigen Forums für indigene Fragen (UNPFII) im April 2019. (UN Photo/Loey Felipe)

Der Dokumentarfilmer Joris Ivens war in seinem Film “Lied der Ströme” aus dem Jahr 1954 der Meinung, dass am Amazonas die Geschichte seit 20.000 Jahren schläft. Das Bild von Landarbeiterinnen und Landarbeitern, die am Ufer Bäume fällen, Felder anlegen und urbar machen, entsprach dem Fortschrittsideal dieser Zeit. Das Narrativ über indigene Völker als prä-moderne, per se rückständig lebende Menschen, die dringend Fortschritt und Entwicklung benötigen, ist bis heute nicht gänzlich durchbrochen. Auch wenn die Rodung des Amazonas oder anderer Regenwälder heute von den Wenigsten als ein Synonym für Fortschritt und Entwicklung wahrgenommen wird, so tragen jedoch die Lebensweisen im Globalen Norden fundamental zur weiteren Zerstörung der Regenwälder weltweit bei.

Albert Denk verweist in seinem Debattenbeitrag darauf, dass mehr Gerechtigkeit nur für und mit Marginalisierten auf globaler Ebene entstehen kann. Dazu müsste das Paradigma des Fortschritts überdacht und endlich auch das Wissen Indigener Bevölkerungsgruppen als gleichberechtigt anerkannt werden.

Im Mai 2021 veröffentlichten das evangelische Werk der Entwicklungs-zusammenarbeit Brot für die Welt, die katholische Organisation Misereor sowie das Global Policy Forum ein Briefing, in dem unter anderem auf die Zusammenhänge zwischen der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus und der Entstehung von Zoonosen verwiesen wird. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine Wechselbeziehung zwischen dem Entstehen von Pandemien und der Zerstörung natürlicher Habitate besteht. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit der weiteren Zerstörung von Waldflächen auch in Zukunft sowohl Epidemien als auch Pandemien auftreten werden, mit den damit verbundenen sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Folgen. Der bestehende Druck auf (Regen)waldflächen, unter anderem durch intensive Landwirtschaft, legale und illegale extraktive Industrien sowie Infrastrukturprojekte, hat in den letzten Jahren nicht ab, sondern zugenommen. Allein im Jahr 2020 stieg beispielsweise die Abholzung des Amazonas um 17 Prozent und damit im Vergleich zum Vorjahr auf 22.500 Quadratkilometer. Im aktuellen Atlas der Zivilgesellschaft wird die besonders für die indigene Bevölkerung bedrohliche Situation, vor allem in Brasilien, deutlich sichtbar. 

Es ist also an der Zeit, wie der senegalesische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr sagt, darüber zu reflektieren, “ein Zivilisationsprojekt zu denken, das den Menschen in den Mittelpunkt (…) stellt, indem es ein besseres Gleichgewicht der verschiedenen Ordnungen vorschlägt: der wirtschaftlichen, der kulturellen und der spirituellen.“ (vgl. Sarr, Afrotopia, S. 15) Welche Rolle kommt den indigenen Völkern im notwendigen Paradigmenwechsel zu? Es gibt Formen von Fortschritt und “nicht schlafender Geschichte”, die der kollektiven Vorstellungkraft die Möglichkeit gibt, eine andere Sichtweise auf das Leben einzunehmen. Eine Perspektive, die vor allem die Grundlage bietet, um ein Leben in größerer Harmonie und Sinnhaftigkeit zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei keineswegs um romantische Zuschreibungen und einem Rückzug auf das vermeintlich Ursprüngliche, sondern um den einzig möglichen Weg für die Gestaltung der Zukunft und zwar durch einen von Verantwortung geprägten Umgang mit den natürlichen Ressourcen.

Der Fokus auf kollektive Verantwortung und die Verbreitung traditionellen Wissens haben existenzielle Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden in globalen Dimensionen. Eine aktueller UN-Bericht verdeutlicht, dass indigene Völker hervorragende Bewahrende der Wälder in Lateinamerika und der Karibik sind. So stehen 45 Prozent der noch intakten Wälder im Amazonasgebiet unter indigener Verwaltung und die über 320 Millionen Hektar Regenwald in Lateinamerika, die von indigenen Völkern kollektiv verwaltet und nachhaltig bewirtschaftet werden, speichern etwa 34.000 Millionen Tonnen Co2. Die in den letzten Jahren weltweit zunehmenden Waldbrände sind in den von indigenen Gemeinschaften traditionell bewirtschafteten Wäldern kaum oder überhaupt nicht aufgetreten. Studien zeigen eindeutig, dass die traditionellen Produktions- und Konsummuster vieler indigener Völker deutlich geringere negative Auswirkungen auf die Natur und die natürlichen Ressourcen haben und – ganz im Gegensatz – praktische Erfahrungen und traditionelles Wissen einen unverzichtbaren Beitrag zur Lebensqualität leisten.

Das Verständnis bezüglich indigenen Wissens und dessen Bedeutung für die planetarische Zukunft spielt insbesondere bei den multilateralen UN-Organisationen eine bedeutende Rolle und es ist zu hoffen, dass sich dieses Verständnis zukünftig auch darüber hinaus stärker durchsetzt. In den letzten Jahren hat auch in Europa in einigen Kreisen die Debatte um das indigene Konzept des “Buen vivir” (das gute Leben) begonnen. Und erstmalig sind indigene Epistemologien auch in Regierungsprogramme, wie in Ecuador oder Bolivien, eingeflossen. Die Vielfalt der Konzepte um “Buen Vivir” ist groß und ausgesprochen komplex. Eine ECLAC Studie (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) gibt einen guten Einblick in die aktuellen Debatten und Herausforderungen. Es kann von der Grundannahme ausgegangen werden, dass dem Begriff des "guten Lebens" das Verständnis der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen dem Menschen und der Natur sowie die Vorstellung von Kulturen als facettenreiche und plurale Realitäten zugrunde liegt. Was die Wirkungsmächtigkeit dieser Grundannahme und der damit verbundene Bruch mit dem westlichen Konzept der wirtschaftlichen (Aus)Nutzung natürlicher Ressourcen ausmachen, zeigen indigene Gemeinschaften unter anderem mit der nachhaltigen Bewirtschaftung enormer Regenwaldgebiete auf.

Es ist also keineswegs so, dass die Geschichte am Amazonas seit 20.000 Jahren schläft, sondern dass die Wechselwirkungen zwischen dem Eingriff in das natürliche Gleichgewicht und den Auswirkungen auf das menschliche Leben in den Blick genommen werden und Teil der Wissensproduktion- und Vermittlung sind. Es geht nicht um einen falschen Traditionalismus, sondern um die Anerkennung des umfangreichen indigenen Wissens und einer Kosmovision des Lebens, die das Ökosystem achtet. Für ein weiteres Überleben der Menschheit ist es ohne Zweifel notwendig, dass die Erzeugung von Zukunftsmodellen nicht ausschließlich auf Prämissen des Globalen Nordens fußt, sondern andere Wissensmodelle nicht nur aufgenommen werden, sondern gleichwertig und gleichberechtigt auf die notwendigen Debatten einwirken. Eine Post-Covid-Ära sollte die Möglichkeit generieren, die ungleiche Verteilung von Macht und Wissen zu überwinden, so dass eine damit einhergehende Veränderung des geoepistemologischen Verständnisses stattfindet.

Lars Bedurke, Leiter der Bildungsabteilung von Brot für die Welt


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