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"Die wirtschaftlichen Folgen sind viel gravierender als die gesundheitlichen"

Im Interview spricht Rolf Traeger von UNCTAD über innovative Lösungen der am wenigsten entwickelten Länder bei der Eindämmung der Pandemie, deren tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Folgen – und was gegen die Ungleichheit im internationalen System zu unternehmen ist.

Rolf Traeger, ein weißer Mann mittleren Alters mit Brille und braunen Haaren, in Anzug, weißem Hemd und blauer Krawatte spricht in ein Tischmikrofon.
Rolf Traeger leitet bei UNCTAD in Genf die LDC-Abteilung Foto: Rolf TraegerUNCTAD/Tim SullivanCC BY-NC 2.0

Verglichen mit den Prognosen zu Beginn dieses Jahres und mit der Entwicklung in den USA, Brasilien oder Russland sind die Infektionen in den am wenigsten entwickelten Ländern (least developed countries, LDCs) relativ gering. Ist dies ein Grund zur Hoffnung?

Rolf Traeger: Ich würde dies mit Vorsicht betrachten. Es ist klar, dass zu Beginn der Pandemie einige absolut katastrophale Folgen prognostizierten, insbesondere in Subsahara-Afrika und bisher war dies nicht der Fall. Zunächst einmal waren die LDCs zeitlich versetzt betroffen, nachdem die Pandemie Westeuropa, Nordamerika usw. erreicht hatte. Erst später gelangte sie nach Afrika und Asien, insbesondere nach Süd- und Südostasien, so dass die Behörden Zeit hatten, sich vorzubereiten.

Es ist bekannt, dass diese Länder über ein mangelhaftes Gesundheitssystem verfügen, viele von ihnen hatten nicht halbwegs genügend Beatmungsgeräte und medizinische Strukturen, aber einige von ihnen haben vorbeugende Maßnahmen ergriffen und dafür innovative Mechanismen eingesetzt, wie zum Beispiel die Einbindung traditioneller Autoritäten zur Verbreitung von Informationen darüber, wie man sich schützen kann. Es war interessant, dass mehrere dieser Länder nicht einfach vorgefertigte Maßnahmen übernommen, sondern selbst innovative Lösungen entwickelt haben. In einigen Fällen entwickelten sie ihre eigenen Lösungen zum Testen, zum Beispiel wurden im Senegal sehr kostengünstige Testverfahren entwickelt.

In gewisser Weise ist das Glas halb leer und halb voll. Es ist halb voll, weil die Infektionsrate weit unter der anderer Länder lag, vor allem im Vergleich zu den Industrieländern, aber auch in anderen Entwicklungsländern wie in Lateinamerika, und das ist ein Grund zur Freude. Das halb leere Glas ist natürlich der schlechte Entwicklungsstand des Gesundheitssystems in LDCs und die Tatsache, dass sie eine sehr geringe Dichte an Krankenhäusern, Ärzten und Krankenschwestern für die Bevölkerung haben.
 

David Beasley, Exekutivdirektor des UN-Welternährungsprogramms (WFP), warnte im Zusammenhang mit COVID-19 vor einer Hungerpandemie und davor, dass mehr Menschen an den wirtschaftlichen Folgen von COVID sterben könnten als am Virus selbst. Wie beurteilen Sie die Situation?

Beginnen wir mit der Nahrungsmittelkrise. Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass sich das nicht für alle Länder verallgemeinern lässt, obwohl eine Reihe von LDCs von Hungerproblemen betroffen sind.  Es gab bereits einige naturbedingte Sorgen, entweder wegen Dürren oder Überschwemmungen oder der Heuschreckenschwärme etwa in Ostafrika. Insbesondere in Ostafrika und der arabischen Halbinsel gab es Heuschreckenschwärme, die katastrophale Folgen für die Landwirtschaft der dortigen Länder hatten.

Hinzu kommen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise. Da die LDCs Maßnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit und zur Abriegelung ergriffen, wie im Grunde alle Länder der Welt, hatte dies zur Folge, dass das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität enorm gesunken ist. Die Konsequenz davon ist natürlich ein sehr rascher Anstieg der Arbeitslosigkeit, ein Rückgang von Dienstleistungen und der Rückfall von Millionen von Menschen in die Armut. So wurde zu Beginn des Jahres erwartet, dass alle 47 LDCs zusammen im Jahr 2020 eine wirtschaftliche Wachstumsrate von mehr als 5 Prozent haben würden. Jetzt wird für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von nur 0,8 Prozent erwartet, und das Pro-Kopf-Einkommen wird voraussichtlich um 1,5 Prozent sinken.

Zunächst einmal ist das eine Folge des Lockdowns selbst, aber auch Folge aller externen Schocks, die auf die LDCs übertragen werden. Im Wesentlichen sind dies verringerte Exporte, weil diese Länder zum Teil stark von Exporten ab­hängig sind. Auf dem Höhepunkt der Pandemie waren die Exporte einiger Länder um etwa 80 bis 90 Prozent zurückge­gangen, es ist also wirklich katastrophal. Und schließlich gibt es noch einen weiteren Sektor, der für einige LDCs wichtig ist. Aufgrund der Reisebeschränkungen, der Schließung der Grenzen, haben sie praktisch keine Touristen mehr empfangen.

"Dies ist die schlimmste wirtschaftliche Entwicklung seit 30 Jahren. Es ist noch viel schlimmer als das, was wir mit der globalen Finanzkrise erlebt haben."

Während also die gesundheitlichen Auswirkungen relativ erfolgreich eingedämmt wurden, ob es sich nun um die LDCs in Afrika, in Asien, im Südpazifik oder in Haiti handelt, wurden sie von der Wirtschaftskrise schwer getroffen, und dies ist die schlimmste wirtschaftliche Entwicklung seit 30 Jahren. Es ist also noch viel schlimmer als das, was wir vor etwa zehn Jahren mit der globalen Finanzkrise erlebt haben.
 

Gegenwärtig werden 47 Staaten zu den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) gerechnet, viele davon liegen in Afrika. Abb.: mappajuCC BY-SA 4.0

Angesichts der weltweiten Rezession erleben wir einen massiven Einbruch der Rücküberweisungen in die LDCs. Können Sie das Ausmaß dieses Einbruchs abschätzen, und gibt es Empfehlungen, wie darauf zu reagieren ist?

Rücküberweisungen von im Ausland arbeitenden Menschen sind für die LDCs zu einer sehr wichtigen Devisenquelle geworden. Sie sind wichtiger als die offizielle Entwicklungsunterstützung, sie sind wichtiger als ausländische Direktinvestitionen. Es gibt vorläufige Schätzungen, die im Falle Südasiens und Subsahara Afrika auf einen Verlust von fast einem Viertel der Rücküberweisungen dieser Arbeitskräfte an die LDCs hindeuten.
Die Frage ist also, was mit der Entwicklungsunterstützung geschehen wird. Und hier kennen wir die Tendenz: Sie schrumpft, wenn es in den Geberländern eine Rezession gibt und wie wir wissen, ist eine große Rezession im Gange. Es gab wiederholte Aufrufe, insbesondere aus den Entwicklungsländern und den LDCs an die Geberländer, die Unterstützungen nicht zu kürzen, aber wir haben immer noch keine Daten darüber, was hier geschieht.
 

Um die schwerwiegendsten Folgen für die Menschen in den LDCs zu vermeiden, hat die UNCTAD eine Reihe von Forderungen vorgelegt. Was ist zu tun?

Das Problem ist, dass sich die LDCs bereits vor dem Ausbruch der Pandemie in einer sehr schwierigen Situation mit ihrer Auslandsverschuldung befanden. Mehrere von ihnen befanden sich in einer Schuldennotlage oder waren einem hohen Risiko der Zahlungsunfähigkeit ausgesetzt. Nun hat sich diese Situation mit der Pandemie nur noch verschärft. Die UNCTAD hat daher einen Schuldenerlass für diese Länder vorgeschlagen.

Die bisherige Reaktion war ein Schuldenmoratorium, das von den Geberländern für einkommensschwache Länder bis Ende des Jahres beschlossen wurde. Aber dies ist nur ein Moratorium, kein Schuldenerlass. Die Frage ist, was im Jahr 2021 geschehen wird?  Eine langfristige Lösung kann nur ein Schuldenerlass sein. Dies wurde in der Vergangenheit getan, dies sollte jetzt wieder geschehen. Das zweite Problem besteht darin, dass sich dieses Schuldenmoratorium nur die Schulden von öffentlichen Institutionen betrifft. Sogar von den entwickelten Ländern wurde gefordert, dass der Privatsektor seinen Teil der Last tragen soll. Aber dies wurde im Grunde genommen von den Gläubigern des Privatsektors mit der kalten Schulter beantwortet.

"In dem Augenblick aber, in dem die Institutionen diesen Ländern zusätzliche Kredite gewähren, steigt automatisch ihre Auslandsverschuldung. Das nährt also nur den Mechanismus der wachsenden Verschuldung."

Es gibt ein weiteres Problem. Ja, es gab eine Zunahme der Kreditvergabe der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) an die Länder mit niedrigem Einkommen, darunter viele der LDCs. In dem Augenblick aber, in dem die Institutionen diesen Ländern zusätzliche Kredite gewähren, steigt automatisch ihre Auslandsverschuldung. Das nährt also nur den Mechanismus der wachsenden Verschuldung.

Und schließlich sollte es eine internationale Bereitstellung von Finanzmitteln geben, durch die sogenannten Sonderziehungsrechte des IWF, die diesen Ländern neue Liquidität verschaffen würden, ohne die Verschuldung zu erhöhen. Angesichts der weltweit tiefsten Rezession seit hundert Jahren und, im Hinblick auf die LDCs, der tiefsten Wirtschaftskrise seit mehr als 30 Jahren ist, jetzt also der richtige Zeitpunkt für die internationale Gemeinschaft, um tätig zu werden.
 

Glauben Sie, dass die derzeitige Krise umfassendere Ungleichheiten in den gegenwärtigen Entwicklungsmodellen widerspiegelt?

Es ist klar, dass die Krise und ihre Auswirkungen extrem asymmetrisch waren, und zwar sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen den Ländern. Ich denke, dass die Situation der LDCs in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich ist. Die Tatsache, dass sie in der Lage waren, sich zusammenzuschließen, sich zu organisieren, innovative Lösungen in der Kommunikation, der Gesundheitsversorgung, der Technologie sowie auf institutioneller Ebene umzusetzen und zu übernehmen, zeigt, dass sie Kreativität, dass sie viel Potenzial haben.

In gewisser Weise ist es ihnen gegenüber sehr unfair, dass sie, obwohl sie zu reagieren und eine Reihe gut durchdachter und angemessener Maßnahmen zu ergreifen imstande waren, immer noch diejenigen sind, die am meisten unter der Krise leiden. Selbst wenn sie also die richtigen politischen Maßnahmen ergreifen, sind sie extrem verwundbar. Und das ist es, was in gewisser Weise extrem ungerecht ist und die Ungleichheit zwischen den Ländern offenbart.


Dr. Rolf Traeger leitet bei der in Genf ansässigen Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) die LDC-Abteilung.

Das Interview führte Wasil Schauseil.


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