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Drei Fragen an Amin Awad

Amin Awad ist der UN-Koordinator für die Flüchtlingssituation in Syrien und Irak sowie Leiter des Büros für den Nahen Osten und Nordafrika im Büro des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen in Genf. Wir haben ihn zur humanitären Lage in Syrien befragt.

Schulkinder in Souran in Syrien freuen sich auf den Besuch von Filippo Grandi, Leiter des UNHCR.
Schulkinder in Souran, Syrien, freuen sich auf den Besuch von Filippo Grandi, Leiter des UNHCR (UNHCR/Andrew McConnell).

Wie ist der aktuelle Stand der humanitären Situation und der Flüchtlingssituation in Syrien?

Im neunten Jahr der Krise ist der humanitäre Bedarf in Syrien nach wie vor enorm hoch, was Umfang, Ernst der Lage und Komplexität betrifft. Mehr als sechs Millionen Syrer, die in den letzten acht Jahren aus ihren Häusern geflohen sind, bleiben Binnenvertriebene. Rund 12 Millionen Menschen sind nach wie vor auf humanitäre Hilfe angewiesen, um die Auswirkungen dieses Krieges zu überleben. Die Ressourcen der Menschen sind erschöpft und es herrscht noch überall chronischer Mangel. Acht von zehn Menschen leben unter der Armutsgrenze. Rund 2,1 Millionen Jungen und Mädchen in Syrien sind nicht eingeschult, weitere 1,3 Millionen Kinder sind vom Schulabbruch bedroht und jede dritte Schule ist teilweise oder vollständig beschädigt. Inzwischen sind 46 Prozent der Krankenhäuser und primären Gesundheitseinrichtungen in Syrien entweder nur  teilweise oder gar nicht funktionsfähig.

Ein Hinweis zum Wortgebrauch: Wir schlagen vor, das Wort „Vertreibung“/ „Vertriebene“ (displacement) anstelle von „Flüchtling“ (refugee) zu verwenden.


Welchen Beitrag kann der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) leisten, um dem syrischen Volk eine Zukunft im eigenen Land zu ermöglichen?

Um die Auswirkungen des Krieges und der Zerstörung auf die Zivilbevölkerung abzumildern, leisten die humanitären Akteure, einschließlich des UNHCR, eine breite Palette von Hilfe und Dienstleistungen für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Einige Hilfen zielen darauf ab, den unmittelbaren Bedarf an Lebensmitteln, Decken, Matratzen, warmer Kleidung, Gesundheitsdiensten und Materialien für Unterkünfte wie Plastikfolien zu decken. Andere Dienste dienen dem Schutz der Menschen, insbesondere denjenigen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, wie Frauen, Kinder und ältere Menschen. So unterstützt der UNHCR beispielsweise die am stärksten gefährdeten Menschen beim Zugang zu Rechtshilfe/ Rechtsberatung und hilft ihnen, die notwendigen zivilen Dokumente zu erhalten. Der UNHCR arbeitet auch mit Gemeinschaften/Kommunen zusammen, um Frauen und Kinder, die durch geschlechtsspezifische Gewalt und Missbrauch gefährdet sind, zu schützen. Der UNHCR setzt sich kontinuierlich dafür ein, dass die Menschen Zugang zu ihren Grundrechten haben, einschließlich der Beschaffung ziviler Dokumente oder des Zugangs zu ihren Wohnungen, Grundstücken und Eigentum. Als humanitäre Organisation setzt sich der UNHCR auch für ein Umfeld ein, das einer freiwilligen, würdevollen, sicheren und nachhaltigen Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen (IDPs) förderlich ist. In diesem Sinne arbeitet der UNHCR mit der syrischen Regierung und verschiedenen Interessengruppen zusammen, um die Aspekte zu beseitigen, die Flüchtlinge als Rückkehrhindernis empfinden. Im Jahr 2018 kehrten rund 1,4 Millionen Menschen, die überwiegende Mehrheit davon Binnenvertriebene, in ihre Herkunftsgebiete zurück. Die Rückkehrenden haben besondere Bedürfnisse, und da die Rückkehr weiterer für 2019 erwartet wird, ist Unterstützung erforderlich, damit die Menschen mit dem Wiederaufbau ihres Lebens beginnen können. Rückkehrende Menschen benötigen Wohnraum, Existenzgrundlagen und Zugang zur Grundversorgung, insbesondere zu Bildung, Gesundheitsversorgung sowie zu Wasser und sanitären Einrichtungen. Wenn jetzt keine Hilfe geleistet wird, wird sich die humanitäre Lage dieser gefährdeten Menschen weiter verschlechtern.


Welche Lehren ziehen Sie aus dem Konflikt in Syrien für die humanitäre Soforthilfe der Zivilbevölkerung in anderen Konflikten?

Wie immer während solcher bösartigen und blutigen Konflikte zahlen die Zivilisten am Ende den höchsten Preis. Der syrische Konflikt ist ein weiteres tragisches Beispiel dafür, wie dringend es notwendig ist, Mechanismen zu finden und Druck auf die Kämpfenden vor Ort auszuüben, um die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen des Krieges zu bewahren. Es besteht die dringende Notwendigkeit, die humanitären Prinzipien bei der Einrichtung humanitärer Korridore zu wahren und eine sichere Durchreise für diejenigen zu gewährleisten, die Hilfe benötigen. Eine weitere Lektion ist, dass es entscheidend ist, einen Notfallplan bei intensiven, komplexen Konflikten zu haben. Solche Pläne ermöglichen es humanitären Organisationen, Menschen mit lebensrettender Hilfe zu erreichen und schnell auf die dringenden Bedürfnisse zu reagieren. Hilfe und Zugang können nicht politisiert werden, ein solcher Versuch geht zu Lasten der Zivilbevölkerung. Der Aufbau lokaler Kapazitäten hat sich ebenfalls als sehr wichtig erwiesen, um die Hilfe rechtzeitig und fair zu leisten. Am wichtigsten ist vielleicht, dass die Krise die große Widerstandsfähigkeit der syrischen Bevölkerung gezeigt hat. Jeden Tag stehen wir in Kontakt mit Menschen, die so viel verloren haben, ihre geliebten Menschen, ihre Häuser/ihr Zuhause, ihren Besitz, aber sie bleiben hoffnungsvoll und engagiert, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Indem sie auf ihre Bedürfnisse hören und eingehen und ihre Selbstständigkeit erhöhen, wo immer möglich, können sie sich darauf konzentrieren eine bessere Zukunft für sich selbst und ihre Gemeinschaften aufzubauen.

Heft 3/2019 der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN befasst sich schwerpunktmäßig mit Syrien.


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