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Ein Pflaster auf der Schusswunde: UN-Mission im Irak fordert die Einhaltung der Menschenrechte

Seit 2003 unterstützt UNAMI den Aufbau demokratischer Strukturen in Irak. Die Parlamentswahlen 2018 weckten Hoffnungen, doch die aktuellen Proteste machen deutlich, wie schwer der Wandel ist.

UN Sondergesandte im Gespräch mit Demonstranten
UN-Sondergesandte Jeanine Hennis-Plasschaert setzt sich für die Sicherheit friedlicher Demonstrierender im Irak ein. (UNAMI PIO/Samir Ghattas)

Kaum hatte der irakische Präsident Braham Salih bei der UN-Generalversammlung am 25. September 2019 die Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung im Irak gepriesen, brachen im Land massive Proteste aus, die bereits am ersten Abend mit tödlichen Schüssen der Sicherheitskräfte beantwortet wurden. Mit bisher über 400 Todesopfern und knapp 20.000 Verletzten haben die Demonstrationen ein neues Ausmaß von Opposition und staatlicher Gegengewalt angenommen.

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) verurteilt wiederholt scharf die von den irakischen Sicherheitskräften begangenen Verstöße gegen die Menschenrechte und demokratischen Grundfreiheiten. Doch während eine Eindämmung der Gewalt bereits erzielt wurde, bleibt die Verbesserung der die Proteste auslösenden Missstände eine Herkulesaufgabe. Zwar wird die technische Unterstützung und Beratung der UN-Mission dringend bei der politischen Umstrukturierung benötigt, doch könnte die UNAMI dieser Aufgabe nicht gewachsen sein: Zu gefährlich würden die Reformen der irakischen politischen Elite.


Generationenübergreifende Frustration

Proteste im Irak sind keine Seltenheit. Regelmäßig geht die Bevölkerung gegen Korruption und mangelnde Grundversorgung auf die Straße. Die seit 1. Oktober anhaltenden Proteste stechen jedoch in Ausmaß, Brutalität und Grad der Entschlossenheit der Demonstrierenden hervor. Im Kontrast zu Protesten der Vergangenheit sind aktuell Bürgerinnen und Bürger verschiedenster konfessionellen und ethnischen Zugehörigkeiten gemeinsam auf der Straße.

Eine Hauptforderung der Demonstrierenden ist die Korruptionsbekämpfung. Laut Transparency International lag der Irak 2018 auf Rang 168 von 175 weltweit. Obwohl 90 Prozent des Staatshaushaltes durch Öl-Renten erwirtschaftet werden und damit der Irak ein eigentlich wohlhabender Staat sein könnte, leidet die irakische Bevölkerung unter mangelnder Grundversorgung, schlechter Bildung, fehlender sozialer Absicherung und hoher Arbeitslosigkeit. Die Kreise der politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes sind geschlossen, Posten werden nach ethnischen Zugehörigkeiten und parteipolitischen Loyalitäten vergeben. Gleichzeitig wehren sich die Demonstrierenden gegen jegliche Form der internationalen Einflussnahme – vor allem aus dem Iran und der Türkei – sowie gegen das 2003 nach dem Sturz von Saddam Hussein von den USA implementierte konfessionell organisierte politische System.

Die erste Phase der Proteste Anfang Oktober wurde durch die Ankündigung von Reformmaßnahmen sowie der Aufklärung von der Gewalt durch Sicherheitskräfte vorrübergehend beruhigt. Als diese Versprechen nicht erfüllt wurden, flammten die Proteste Ende Oktober heftiger und von breiteren Bevölkerungsschichten getragen auf. Dass sich die Demonstrierenden trotz der exzessiven staatlichen Gewalt nicht einschüchtern lassen zeigt ihre Entschlossenheit. Premierminister al-Mahdi gab diesem Druck am 1. Dezember nach und erklärte seinen Rücktritt. Das Parlament hat nun dreißig Tage Zeit, um einen neuen Premier zu bestimmen.
 

Plan der UNAMI gegen Chaos im Land

Im Anschluss an die US-Invasion im Irak erhielt UNAMI 2003 das Mandat für eine zivile Unterstützungsmission zum Wiederaufbau des Landes. Unter anderem sollen der politische Dialog und die Aussöhnung gefördert werden. Außerdem sollte UNAMI die Regierung bei der Gestaltung politischer Prozesse und wirtschaftlicher Reformen beraten und sie beim Schutz von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit unterstützen.

Die UN-Sondergesandte Jeanine Hennis-Plasschaert verurteilt scharf, dass der irakische Staat der Pflicht zum Schutz seiner friedlich demonstrierenden Bürgerinnen und Bürger nicht nachkomme. Sie fordert die Regierung zur transparenten Aufklärung der Gewalt sowie Freilassung der inhaftierten Protestierenden auf. In einem Bericht an den UN-Sicherheitsrat am 3. Dezember 2019 betonte sie, die Demonstrierenden würden klare, legitime Forderungen stellen, die von der Regierung gehört werden sollten.

Ein Bericht des Menschenrechtsreferats der UNAMI betont die Gewaltfreiheit der Demonstrierenden, auf die mit scharfer Munition geschossen würde. Illegale Verhaftungen sowie temporäre Einschränkung des Internets als Eingriff in die Meinungsfreiheit werden außerdem kritisiert.

In einem Strategieplan werden als erste Schritte die Freilassung von Verhafteten, die Beilegung von Gewalt gegenüber Demonstrierenden sowie der Aufruf an die internationale Staatengemeinschaft, sich nicht in die Souveränität des Iraks einzumischen, aufgezählt. Längerfristig müssten das Wahlsystem und der Sicherheitssektor reformiert und die wirtschaftlichen Vermögen der politischen Eliten von einer unabhängigen Instanz untersucht werden.

In einer seltenen politischen Stellungnahme des Großayatollah al-Sistani drückt dieser seine Unterstützung für den UN-Plan aus. Seine Erklärung gibt sowohl dem konkreten Plan von UNAMI als auch der Institution an sich Gewicht. Die Irakerinnen und Iraker wehren sich dagegen, Spielball internationaler Interessen und Mächte zu sein, wie sie es seit Jahrzehnten erleben. Solange die UN-Mission als neutraler politischer Akteur akzeptiert wird, kann sie sich mit größerem Einfluss als die irakische Regierung für den Respekt der Souveränität des Landes einsetzen.
 

Entschlossenheit trotz düsterer Perspektive

Momentan ist ein Ende der Proteste nicht absehbar. Zu entschlossen sind die Demonstrierenden und zu tiefgreifend sind ihre Forderungen, als dass diese von der Regierung kurzfristig erfüllt werden könnten. Sie wünschen sich ein neues Verständnis davon, was es bedeutet Irakerin und Iraker zu sein. Eine Beendigung der Demonstrationen durch Einschüchterung ist keine Lösung.

Entscheidende, auch von UNAMI als unabdingbar bewertete Veränderungen wie der Abbau von Subventionen werden zu massiven Protesten führen, besonders dann, wenn Irakerinnen und Iraker weiterhin von der Korruption innerhalb der politischen Elite überzeugt sind. Doch eine politische Umstrukturierung und tiefgreifende Bekämpfung von Korruption kann auch ein neuer Premierminister nicht ohne weiteres realisieren. Zu sehr würde dies das Machtgefüge der politischen Eliten gefährden.

Die öffentliche Kommunikation der UN-Mission im Irak bestätigt den Pessimismus: Reformvorschläge gelten momentan als zweitrangig. Aktuell steht der Schutz von Menschenleben und grundlegenden Menschenrechten im Vordergrund. Nur nachhaltiger Druck durch Demonstrationen kann den Regierenden die Dringlichkeit tiefgreifender Reformprozesse vermitteln. Sollten die Irakerinnen und Iraker diese tatsächlich in Bewegung bringen, wird die Unterstützung und Beratung durch UNAMI wichtiger sein denn je.

Tonja Klausmann


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