Expertise in der Krise
Ob Klimakrise oder Corona-Krise – die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen für politische Entscheidungen wird aufgrund der Komplexität, der globalen Dimension und der Dringlichkeit der Themen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft als zentral erachtet. So wurde auch in Resolution A/RES/74/229 der UN-Generalversammlung vom 19. Dezember 2019 die Bedeutung von Innovation, Technik und Wissenschaft für ein besseres Verständnis komplexer und abhängiger Verbindungen zwischen Menschen und Umwelt, für die Entwicklung von wissensbasierten Lösungen und für die Integration von diversen Akteuren in globale Transformationsprozesse bekräftigt. Jedoch zeigt sich in der Corona-Krise, dass Politisierung und Überschätzung von Expertise zu neuen Problemen für multilaterale Zusammenarbeit und Wissenschaft führen kann.
Expertise in der Corona-Krise
Forscherinnen und Forscher weltweit untersuchen nicht nur das Corona-Virus und entwickeln Ansätze zur Bewältigung der globalen Gesundheitskrise, sondern sie befassen sich auch mit den ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen der Pandemie. Obwohl sich die Forschung in vielen Bereichen derzeit häufig noch ganz am Anfang, beispielsweise in der Datenerhebungs- oder Testphase, befindet, wird diese Forschungsarbeit in der Gesellschaft mit großen Hoffnungen verbunden: Zum einen wird erwartet, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen befassen. Forschung soll durch diesen Fokus schnell zu einem besseren Verständnis der vielschichtigen und dynamischen Situation sowie zu validen praxistauglichen Lösungsansätzen beitragen anstatt eine ergebnisoffene, im besten Fall interdisziplinäre Untersuchung durchzuführen mit einer sorgfältigen Definition der Untersuchungsgrenzen. Zum anderen wird erwartet, dass die Erkenntnisse der Wissenschaft für Politik und Gesellschaft sofort zur Verfügung stehen, obwohl dafür ein vielschichtiger Übersetzungs- und Kommunikationsprozess notwendig ist. Aus der Bedeutung, welche wissenschaftlicher Expertise in der Corona-Krise zugemessen wird, ergeben sich somit neue Herausforderungen.
Politisierung und Überschätzung von Expertise führt zu neuen Herausforderungen
Eine erste Herausforderung ergibt sich mit Blick auf die Nutzung wissenschaftlicher Expertise selbst: Im Gegensatz zur Klimakrise, deren Auswirkungen in ferner Zukunft zu sein scheinen, wird der Handlungsdruck in der Corona-Krise aufgrund täglich steigender Fallzahlen bereits heute als besonders groß empfunden. Anstatt jedoch aufgrund der Dringlichkeit mit Entschlossenheit partizipative Verfahren zur Integration von diversem Wissen in politische Entscheidungen zu fördern, scheinen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Virologinnen und Virologen gleichgesetzt zu werden. Dabei wäre die sorgfältige Deliberation so wichtig, um nicht Gefahr zu laufen, wichtige Aspekte zu übersehen und damit das Ausmaß der Krise – ökonomisch, sozial beziehungsweise ökologisch – noch zu verschlimmern. Es mangelt derzeit an kritischer Reflexion darüber, welches Wissen wann und wie politisch genutzt wird und welches nicht. Wer gilt in der Corona-Krise als Expertin oder Experte?
Als globale Krise, die durch ein Virus ausgelöst wurde, gelten heute insbesondere Gesundheitsforscherinnen und -forscher sowie Virologinnen und Virologen als Fachleute. Diese Expertinnen und Experten werden von Politik und Gesellschaft jedoch häufig nicht nur über ihr Fachgebiet befragt – zum Beispiel über die Verbreitung des Virus –, sondern auch nach politischen Handlungsempfehlungen – beispielsweise über die Schließung von Schulen. Hierin offenbaren sich gleich zwei Probleme: Zum einen ist eine Überschätzung von disziplinären naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Lösung vielschichtiger und damit nicht nur naturwissenschaftlicher Herausforderungen festzustellen. Zum anderen kommt es zu einer Politisierung von Wissenschaft. Hierbei entfällt die notwendige Vergewisserung darüber, was Wissenschaft leisten soll und kann versus was die Aufgabe der Politik ist, die letztendlich die Verantwortung für ihre politischen Entscheidungen trägt.
Eine zweite Herausforderung ergibt sich aus Perspektive multilateraler Zusammenarbeit: Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation – WHO) wurde 1948 gegründet, um als Plattform für Wissenstransfer und die Entwicklung von koordinierten Lösungen auf globale Gesundheitsprobleme ihrer Mitgliedstaaten zu dienen. Sie kann damit als wichtige Instanz zur Integration und Übersetzung von Wissen aus Forschung in Politik und Praxis verstanden werden.
Als die WHO am 30. Januar 2020 jedoch den internationalen Gesundheitsnotstand ausrief und selbst als sie am 11. März 2020 die Corona-Krise zu einer Pandemie erklärte, verließen sich die meisten Staaten auf ihre nationalen Expertinnen und Experten sowie unilaterale Maßnahmen, bis hin zur Schließung von Grenzen. Statt, wie von der WHO wiederholt gefordert, Tests und Hygienemaßnahmen durchzuführen sowie internationale Solidarität zu zeigen, wurde die Organisation von vielen Staaten zunächst ignoriert – beispielsweise von Großbritannien, das zu dem Zeitpunkt noch von „Herdenimmunität“ sprach –, anschließend für mangelnde Warnung kritisiert – zum Beispiel von den USA, die ihre Beiträge an die WHO einstellen wollen – oder teilweise durch andere Akteure mit Blick auf die Bereitstellung von Expertise ersetzt – zum Beispiel für internationale Fallzahlen der Johns Hopkins University.
Die Annahme, dass zur Verfügung gestelltes praxisrelevantes Wissen über globale Krisen automatisch zu entsprechenden politischen Maßnahmen und zu internationaler Zusammenarbeit bei deren Bewältigung führt, unterschätzt somit politische Interessen und Machtstrukturen in Bezug auf Expertise. In diesem Sinne kann auch die Warnung des UN-Generalsekretärs António Guterres vor Falschinformationen angeführt werden.
Wissenstransfer zur Bewältigung globaler Krisen
Tatsächlich findet oftmals jenes Wissen in der Politik anklang, das leicht verständlich ist, an bereits vorhandene gesellschaftliche Diskurse und politische Programme anschließt und darüber hinaus noch zur richtigen Zeit von einflussreichen Akteuren unterstützt wird.
Aus diesem Grund ist der offene und reflektierte Umgang mit Wissen die zentrale Herausforderung für eine überlegte und gemeinschaftliche Bewältigung globaler Krisen. Dies gilt sowohl in Bezug auf Expertise und anerkanntes Wissen, die Rolle von Wissenschaft versus Politik, zugrundeliegende Komplexität, Unsicherheiten und dynamische Entwicklung von globalen Problemen. Dies gilt aber auch für die notwendige Auswahl und Abwägung von vielfältigen Informationen durch Integrationsprozesse.
Transparenz und Integration beim Transfer von Wissen sind nicht trotz, sondern gerade wegen der Dringlichkeit in der Corona-Krise geboten, um den dargestellten Herausforderungen zu begegnen und in einer sich wandelnden internationalen Ordnung Solidarität und multilaterale Ansätze – insbesondere auch für zukünftige Krisen im Kontext des Klimawandels – zu stärken.
Dr. Ulrike Zeigermann ist Politikwissenschaftlerin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Centre Marc Bloch.