Freiwillige Selbstisolation respektieren
Indigene Völker sind weltweit in mehrfacher Hinsicht besonders stark vom COVID-19-Virus betroffen, da es unter ihnen besonders viele Risikopatientinnen und -patienten gibt. Viele Indigene leiden an Tuberkulose, Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen. Es gibt oft Alkoholmissbrauch. Mangel- beziehungsweise Fehlernährung sind verbreitet und gerade unter Jugendlichen gibt es eine hohe Suizidrate. Die Menschen in den indigenen Gebieten leben in der Regel weit verstreut. Die Infrastruktur für ihre Versorgung mit Hilfsgütern und auch medizinischer Versorgung ist schlecht.
COVID-19 verschärft Entrechtung und Marginalisierung
Besonders dramatisch ist die Situation in Amazonien. Führende Dachverbände und Unterstützerorganisationen indigener Völker in Brasilien haben Ende April 2020 in einem gemeinsamen Forderungskatalog von Brasiliens Regierung eine bessere Ausstattung der Gesundheitsstationen in indigenen Gebieten mit Schutzmasken, Virus-Testsätzen und Hygiene-Artikeln sowie die Bereitstellung von Krankenhausbetten für schwer Erkrankte gefordert. Polizei und Behörden müssten endlich dafür sorgen, dass illegale Eindringlinge, die nach Gold graben, Bäume fällen oder Land besetzen, aus indigenen Gebieten entfernt werden und der Gesundheitsnotstand nicht für neuerliche Invasionen genutzt wird.
Brasiliens indigene Völker kämpfen in der Corona-Krise um ihr Überleben. Denn COVID-19 verschärft ihre ohnehin dramatische Lage, die von Entrechtung und Marginalisierung geprägt ist. Es gibt zwar einen Gesundheitsdienst für indigene offiziell anerkannte Schutzgebiete. Doch der ist hoffnungslos überfordert. Die amtierende Regierung hat allem Anschein nach kein großes Interesse daran, hier grundlegend etwas zu verbessern. Stattdessen ist die Öffnung der letzten Rückzugsgebiete Amazoniens und deren wirtschaftliche Erschließung für die Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro das Mittel der Wahl. Dabei haben Invasionen schon in den 1970er Jahren zum Beispiel für den Bau des Straßenbauprojekts „Transamazȏnica“ Epidemien mit eingeschleppten Infektionskrankheiten ausgelöst, die manche Gemeinschaften nahezu ausgelöscht haben. Mit Recht fordern die Vertreterinnen und Vertreter der Indigenen auch heute noch, dass sie selbst darüber entscheiden können, wer in ihre Gebiete kommen kann und dass staatliche Interventionen das widerrechtliche Eindringen von Fremden unterbinden. Zurzeit, so hat es den Anschein, tut die Regierung Bolsonaro das genaue Gegenteil.
Abstand halten und soziale Distanzierung werden von Fachleuten allgemein als Mittel gegen Infektionskrankheiten eingefordert. Indigene in Brasilien haben offenbar keinen Anspruch auf diese Vorsichtsmaßnahme. Hier musste erst ein Gerichtsentscheid dafür sorgen, dass eine evangelikale Missionsgesellschaft ihre Expedition zu einer isoliert lebenden indigenen Gemeinschaft unterlässt. Das Risiko, dass sie mit der Bibel auch den Virus einschleppen würden, wurde von dem Gericht erkannt. Den Verfassungsauftrag, die aus eigener Entscheidung isoliert lebenden Indigenen vor ungewolltem Kontakt zu schützen, nahm das Gericht ernst.
Infektionsrisiko bei Indigenen besonders groß
Die Organisation „Artikulierung der indigenen Völker Brasiliens“ (APIB) erklärte in einer Verlautbarung vom 25. April, was den Corona-Virus gerade für indigene Völker so gefährlich macht. Der Virus ist nicht ihr einziger Gegner. „Wir können unsere Gemeinschaften unmöglich nur dadurch schützen, dass wir uns isolieren, während gleichzeitig Holzfäller, Bergleute und Landräuber unsere Rechte verletzen, unsere Umwelt zerstören und dadurch die Chancen einer Infektion durch COVID-19 erhöhen.“ Weil der Staat sie im Stich lässt, greifen immer mehr indigene Gemeinschaften zur Selbsthilfe und schließen ihre Siedlungen für Außenstehende. In ganz Amazonien haben sich indigene Gemeinschaften schon so entschieden. Zu ihnen gehören die Ashaninka, Xingu und Karipuna in Brasilien, die Tawasap und Shuar in Ecuador oder die Nukak in Kolumbien.
Das Ständige Forum zu Fragen der indigenen Völker (Permanent Forum on Indigenous Issues – PFII) in New York ist das wichtigste Sprachrohr der Indigenen auf Ebene der UN. In einer Grundsatzerklärung anlässlich der Absage der Jahrestagung des PFII für 2020 erklärt Vorstandsmitglied Anne Nuorgam: „Viele indigene Gemeinschaften leiden bereits an Unterernährung und Lebensbedingungen, die das Immunsystem schwächen, sodass sie besonders empfänglich sind für Infektionskrankheiten. […] Die besondere Sorge gilt den chronisch Kranken, den Gebrechlichen und den indigenen Ältesten (Elders). Diese sind von größter Bedeutung für unsere Gemeinschaften, denn sie bewahren unsere Geschichte, unsere Traditionen und unsere Kultur.“ Die Staaten müssten Außenstehende daran hindern, solche Gebiete zu betreten. Und entsprechende Maßnahmen sollten interdisziplinär sein und den akzeptierten Protokollen und internationalen Empfehlungen etwa der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) folgen.
Empfehlungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations – FAO), die nach eigenen Angaben in ständigem Austausch mit den indigenen Selbstorganisationen steht, fasst den Handlungsbedarf in einer Reihe von Empfehlungen zusammen. Darin fordert sie unter anderem die Regierungen dazu auf, bei allen im Zusammenhang mit COVID-19 stehenden Maßnahmen während und nach der Pandemie die Vertreterinnen und Vertreter sowie traditionellen Autoritäten indigener Völker einzubeziehen. Dazu gehört beispielsweise auch die Verteilung von Gesichtsschutz, Handschuhen, Desinfektionsmitteln und anderen Hygienemitteln. Gezielt müsse hier auch die indigene Jugend einbezogen werden, um sie auf ihre künftige Rolle als Führungspersonen vorzubereiten. Für das Gesundheitsmanagement wichtige Informationen sollen indigenen Völkern auch in audiovisueller Form und in ihren jeweiligen Sprachen zur Verfügung gestellt werden. Bei allen Maßnahmen ist der in der UN-Erklärung zu den Rechten indigener Völker (United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples – UNDRIP) verankerte Grundsatz der freien vorherigen informierten Zustimmung (Free Prior Informed Consent) einzuhalten. Bleibt zu hoffen, dass diese wohlklingenden Worte nicht nur auf dem Papier stehen werden.
Yvonne Bangert ist Referentin für indigene Völker bei der Gesellschaft für bedrohte Völker e.V.