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Chile: Mehr Frieden durch Demokratie

In den vergangenen zwei Jahren demonstrierten massenhaft Bürgerinnen und Bürger in Chile für ihre demokratischen Rechte. Die Regierung wiederum machte durch Menschenrechtsverletzungen Negativschlagzeilen – und ignorierte weitestgehend die Kritik der internationalen Gemeinschaft.

Viele Menschen mit bunten Fahnen auf einer Demonstration in Santiago de Chile.
Demonstrationen auf der Plaza de la Dignidad in der chilenischen Hauptstadt Santiago.

(Foto: Matías Garrido Hollstein/flickr/CC BY-NC-SA 2.0/"Wiphala")

Am 18. Oktober 2019 gingen mehr als eine Million Chileninnen und Chilenen auf die Straße. Es sollte eine der größten Demonstrationen gegen die politische Elite in der Geschichte des Landes werden. Wenige Tage zuvor bezeichnete Präsident Sebastián Piñera in einer Morgensendung des chilenischen Staatsfernsehens Chile als eine „Oase“ in Lateinamerika: Tatsächlich war das traditionelle Bild Chiles viele Jahre lang das eines Landes, in dem die neoliberale Politik von Augusto Pinochets Diktatur den Grundstein für den erfolgreichen wirtschaftlichen Aufstieg gelegt hatte, den das Land während der Transition zur Demokratie erlebte. Doch die politischen Ereignisse nach dieser ruhebeschwörenden Erklärung offenbarten eine ganz andere Realität, in der die sozialen Folgen eines extrem ungleichen Landes wie Chile aufgetaucht sind

Krieg gegen einen inexistenten Feind

Bereits vor etwa fünfzehn Jahren nahmen Hunderttausende von Schülern und Studierenden bei massiven Demonstrationen während der „Revolución Pingüina“, die erste relevanteste studentische politische Bewegung seit dem Rückkehr der chilenischen Demokratie vorweg, dass der neue politische Wandel des Landes von den Schulen und Universitäten ausgehen müsste. Die Slogans der politischen Demonstrationen drehten sich um einige Kernforderungen, wie etwa die Notwendigkeit „kostenloser öffentlicher Bildung“ (in Chile kostet das Studium an einer öffentlichen Universität circa 5.000 Euro pro Jahr), oder die Schaffung einer neuen, vom Volk gebilligten Verfassung, welche die bis jetzt geltende und wenig reformierte Verfassung der diktatorischen Zeiten zu ersetzen suchte. Trotzdem erreichte der soziale Druck im Jahr 2019 einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Es gab keinen einzelnen Auslöser, der den Druck verstärkte, doch die Indifferenz der korrupten politischen Klasse gegenüber den alltäglichen Problemen und Mängeln der Mehrheit des Volkes hatte einen großen Bestandteil daran. Nachdem die Demonstrationen begannen, war die erste Reaktion des Präsidenten, „einen Krieg gegen einen mächtigen Feind“ zu erklären. Es ist nach wie vor nicht ganz klar, wen er in seiner Erklärung als „Feind“ bezeichnete (wahrscheinlich ging er davon aus, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung auf seiner Seite gegen die Protestierenden auf der Straße war). Seine Aussage sorgte jedoch nur dafür, den politischen Unmut zu verschärfen, indem sie auf die eine Seite die Polizei und das Militär als Verteidigung der Regierung und auf die andere die Demonstranten stellte.

Gleichgültigkeit gegenüber dem Bericht des Hohen Kommissars der UN?

Das radikale Unverständnis für die Geschehnisse im Land, das in der „Kriegserklärung“ des Präsidenten impliziert war, hinterließ eine bedauerliche Bilanz von Menschenrechtsverletzungen, wie das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte in einem im Dezember 2019 veröffentlichten Bericht bilanzierte. Demnach gibt es begründeten Anlass zu der Annahme, dass während der Proteste vielfach Menschenrechtsverletzungen wie Todschlag, Folter, schwere Körperverletzung, sexuelle Gewalt und willkürliche Inhaftierungen durch das Militär und die Polizei begangen wurden. Die Schwere dieser Verstößte zeigt, dass sie keiner verhältnismäßigen Behandlung der friedlichen Demonstrierenden entsprach. Auch wenn einige Demonstranten gewalttätig werden, besteht die Verpflichtung von Polizei und Militär darin, Ausschreitungen gezielt und deeskalierend zu handhaben, damit das Demonstrationsrecht nicht gefährdet wird.

Die erste Reaktion der chilenischen Regierung auf den Bericht der Vereinten Nationen war außergewöhnlich schwach: Sie beschränkte sich darauf, den Inhalt des Berichts in Frage zu stellen, indem sie darum bat, die Richtigkeit der Quellen zu überprüfen. Gleichzeitig wurden die Vorschläge der UN zynisch begrüßt.

Im März 2020, wenige Monate nach der Veröffentlichung des Berichts, erklärte Jan Jarab, Vertreter des OHCHR in Südamerika, dass in Bezug auf die Vorschläge des OHCHR keine nennenswerten Fortschritte erreicht worden waren, da immer noch Menschenrechtsverletzungen im Kontext politischer Demonstrationen gemeldet wurden.

Enttäuschende Rede vor der UN-Generalversammlung

Zwei Jahre nach Beginn dieser revolutionären Ereignisse machte der chilenische Präsident Piñera – im Rahmen der letzten UN-Generalversammlung im September 2021 – einige sehr allgemeine Bemerkungen zu den Ereignissen, die den Protesten von 2019 folgten. Er erklärte, die Forderungen der Bevölkerung seien legitim, es habe aber auch eine „beispiellose und inakzeptable Welle der Gewalt“ gegeben. Damit bezog er sich nicht auf die Gewalt seitens des Militärs und der chilenischen Polizei, sondern auf die Gewalt von bestimmten Gruppen, die an den Demonstrationen teilnahmen, ohne ein wesentlicher Teil davon zu sein. Es wäre zu erwarten, dass ein Präsident, der die Menschenrechte ernst nimmt, eine Erklärung zu den Maßnahmen abgeben würde, die ergriffen wurden, um beispielsweise diejenigen Menschen zu entschädigen, die durch die Schüsse der Polizei ihr Augenlicht verloren hatten. Doch nichts dergleichen kam zur Sprache.

Im restlichen Teil seiner Rede sprach Piñera nicht nur über die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie, sondern verwendete pathologische Terminologie, um sich auf die chilenische Politik zu beziehen. Er verglich die durch das Coronavirus verursachten Krankheiten mit „den toxischen und tödlichen Krankheiten, die durch den Populismus verursacht werden, dem Krebsgeschwür der Polarisierung und der Seuche der politischen Fragmentierung“. Diese Anspielungen sind keineswegs unbedeutend, da im chilenischen politischen Diskurs meist die Begriffe Populismus, Polarisierung und politische Fragmentierung gegen jede Maßnahme verwendet werden, die dazu dient, politische, soziale oder wirtschaftliche Rechte zu gewährleisten. Als der Präsident beispielsweise behauptete, die Seuche der Fragmentierung bestehe „in einer Tendenz zu einer Politik der Identitäten, die einzelne Ursachen oder kleine Gruppen im Blick hat“, gab er zu verstehen, dass er den Einbezug von Minderheiten in den institutionellen Bereich mit Argwohn sieht.

Konsens heißt nicht Unterdrückung

Für manche Politiker bedeutet Konsens nur, den Status quo zu wahren. Doch Frieden kann in einer Gesellschaft nicht auf Dauer bestehen, wenn Menschenrechte verletzt und ignoriert werden. Dabei besteht stets die Möglichkeit, dass die Vernachlässigten immer wieder Präsenz zeigen, um ihre Stimme im Rahmen des öffentlichen Diskurses zu erheben. So ist es in Chile geschehen, wo nach historischen Protesten fast 80 Prozent der Bevölkerung für eine neue Verfassung stimmten, um eine im Kontext einer Diktatur etablierte politische Struktur zu überwinden. Die Chileninnen und Chilenen, die einen Wandel anstreben, wünschen sich eine andere Art von Frieden und Konsens als die des Präsidenten und der Regierung. Sie zeigen, dass durch mehr Demokratie auch mehr Frieden erreicht werden kann.

Leonel Bustamante


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