Dämpfer für die Reform des VN-Entwicklungssystems

Die internationale Entwicklungspolitik hat mit der „2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung“ ein neues Leitbild und politischen Schwung erhalten, sie steht vor immensen Aufgaben. In New York läuft ein Prozess, um das VN-Entwicklungssystem zu reformieren und für die Nachhaltigkeitsära fit zu machen. Dieser Prozess geht nun in die zweite Phase: Nachdem die Mitgliedsstaaten in einem 18-monatigen Dialog Reformoptionen diskutiert haben und in diesem Kontext eine hochrangige Beratergruppe unter dem deutschen Ko-Vorsitzenden Klaus Töpfer zuletzt ambitionierte Reformvorschläge vorgelegt hat, tritt der Reformprozess im Spätherbst in die Phase zwischenstaatlicher Verhandlungen ein.
Das abschließende „Arbeitspapier“ der Beratergruppe sollte (bzw.: durfte) kein offizielles, in alle VN-Sprachen übersetztes VN-Dokument sein, sondern lediglich als informeller Input für einen Bericht des Generalsekretärs dienen. Dieser Bericht wurde als wichtige Grundlage für die Verhandlungsphase erwartet. Noch im Juni hatte der Generalsekretär im Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) die Arbeit der Beratergruppe explizit gewürdigt: “I trust we will all benefit from this bold diagnostic work and consider their wide range of proposals." Anfang August hat der Generalsekretär nun seinen Bericht veröffentlicht. Leider finden die Empfehlungen der Beratergruppe darin nur kursorisch Erwähnung in der Einleitung. Der Bericht des Generalsekretärs fällt weit hinter den Reformwillen der Mitgliedsstaaten zurück, wie er in der Dialogphase zum Ausdruck kam.
Empfehlungen der Beratergruppe: „mehr System“, weniger Bilateralismus
Eigentlich herrscht Einigkeit über das Grobziel des Reformprozesses: Die Effizienz, Effektivität und Kohärenz des VN-Entwicklungssystem müssen signifikant gesteigert werden. Dabei ist es derzeit ein Euphemismus, überhaupt von einem „System“ zu sprechen, denn es handelt sich vielmehr um ein zunehmend fragmentiertes Netz von 34 Organisationen und Einheiten, die keiner wirksamen zentralen Steuerung folgen. So war der Ausgangspunkt für die Beratergruppe, dass es nach früheren Reformbewegungen, die hauptsächlich eine bessere Organisation der VN-Länderpräsenz betrafen, nun darauf ankommt, die Ebene der Headquarters zu reformieren, quasi den Kopfbereich des VN-Entwicklungssystems. Diese würde auch eine signifikante Aufwertung des VN-Multilateralismus bedeuten.
Zentrale Vorschläge der Beratergruppe waren: Die Schaffung einer zentralen Führungsposition mit Verantwortung für die Steuerung und das Management des Entwicklungssystems, so wie das in vergleichbaren Großorganisationen üblich ist; diese Person (idealerweise mit dem Rang eines Vize-Generalsekretärs) würde das Resident Coordinator-System verwalten, welches derzeit beim VN-Entwicklungsprogramm (UNDP) angesiedelt ist (der Resident Coordinator, eine Art Botschafter der VN, koordiniert die Arbeit der verschiedenen VN-Organisationen in dem jeweiligen Entwicklungsland); die Einführung eines systemweiten Budgets für eine bessere Übersicht und Planung der VN-Entwicklungszusammenarbeit; in diesem Zusammenhang die Einführung zentraler Finanzierungskonferenzen, um den Trend der Bilateralisierung der VN infolge eines starken Anstieges von Drittmitteln umzukehren; die Einrichtung eines systemweiten Sustainable Development Boards, welches mittelfristig die Aufsichtsgremien der Fonds und Programme ablösen würde; außerdem die Stärkung des ECOSOC für die neue Aufgabe einer politischen Steuerung der globalen Nachhaltigkeitstransformation.
Alle diese Empfehlungen sind „bold and provocative“ im VN-Kontext – genau das, was das ECOSOC-Büro von der Beratergruppe eingefordert hatte. Sie haben das Potenzial, eine grundlegende Modernisierung der VN-Entwicklungskooperation in die Wege zu leiten. Zugleich knüpfen diese Empfehlungen an frühere Reformberichte an, sie stehen auf dem Fundament eines über Jahre gewachsenen Expertenkonsenses.
Bericht des Generalsekretärs: Inkrementelle Anpassungen statt Wurzelbehandlung
Der Bericht des Generalsekretärs mahnt zwar ebenfalls tiefgreifende Veränderungen an. So wird ein „Kulturwandel“ im VN-Entwicklungssystem gefordert und eine „neue Art des Organisierens“. Allerdings schlägt der Bericht keine diesem Ziel entsprechenden transformativen Reformen vor. Fast alle Vorschläge bleiben im Bereich inkrementeller Verbesserungen innerhalb existierender Strukturen und Mechanismen.
Einiges davon ist sicherlich begrüßenswert: Es wird u.a. eine Stärkung der gebündelten Finanzierung („pooled funding“) zur Überwindung der Fragmentierung im VN-Entwicklungssystem gefordert. Auch die Überprüfung und Rationalisierung der VN-Länderpräsenz (derzeit gibt es 1432 Büros in 180 Ländern) sowie der Ausbau der Verbindungen zu den internationalen Finanzinstitutionen für eine bessere Entwicklungsfinanzierung sind richtig und wichtig. Sehr bedenkenswert ist auch der Vorschlag, einen Reflexionsprozess zur Rolle der VN in den Industrieländern zu initiieren.
Gleichwohl, die strukturellen Probleme des VN-Entwicklungssystems werden nicht angegangen. Paradigmatisch ist hier der Vorschlag, durch digitale Transparenz in der Länderarbeit eine bessere Koordination von Entwicklungsmaßnahmen zu ermöglichen. Doch Transparenz alleine wird nicht dazu führen, dass der problematische Wettbewerb der VN-Organisationen um bilaterale Entwicklungsgelder überwunden wird; und ohne zentrale Aggregation und Präsentation von Daten ist eine kluge Prioritätensetzung nicht möglich. So folgen fast alle Vorschläge des Generalsekretärs dem gescheiterten Prinzip „(Selbst-) Koordination ohne Autorität“. Zugespitzt könnte man formulieren: Der Bericht verordnet dem System Zahnseide, wo es doch einer Wurzelbehandlung bedürfte.
Ein schwieriger Reformprozess, in dem Führung gefragt ist
Im Bericht des Generalsekretärs ist deutlich die Handschrift der VN-Entwicklungsgruppe erkennbar, in welcher 31 Organisationen und Einheiten des VN-Entwicklungssystems zusammengeschlossen sind. Dieses Netzwerk hat in Reaktion auf den Bericht der Beratergruppe eigene Reformvorstellungen präsentiert, die sich weitestgehend auf die Länderebene beschränken, während strukturelle Reformen auf der Ebene der Zentralen ausgespart werden. Ambitionierte Reformvorschläge werden mit Verweis auf laufende Anpassungsprozesse mit großer Skepsis, wenn nicht sogar Existenzängsten abgewehrt. Dem Vernehmen nach reagierte Helen Clark, die Vorsitzende der Entwicklungsgruppe und potentielle Anwärterin auf das Amt des Generalsekretärs, mit großer Verärgerung auf das Papier der Beratergruppe.
Die Reform des Entwicklungssystems ist also kein Selbstläufer. Das System kann sich nicht selbst reformieren, sondern jemand von außen muss jetzt das Ruder herumreißen und die sich selbstverstärkende Fragmentierung und Bilateralisierung des VN-Entwicklungssystems stoppen. Doch die Mitgliedsstaaten sind sich nur hinsichtlich der abstrakten Ziele, nicht aber bei den dazu erforderlichen Reformen einig. Die Empfehlungen der Beratergruppe wurden von den Mitgliedsstaaten überwiegend kritisch diskutiert. Es besteht Sorge, mit einer „Zentralisierung“ – im New Yorker VN-Kontext ist das ein Ruf zu den Waffen – die Souveränität der Mitgliedsstaaten oder zumindest ihre Interessen zu verletzen. Vertreter des Systems versuchen, gerade kleinere Entwicklungsländer mit Expertisen auf ihre Seite zu ziehen. Auch einige der großen Geberländer sind skeptisch, weil sie um ihre Privilegien fürchten (z. B. die Einflussmöglichkeiten über Drittmittelprojekte, die Überrepräsentation in den VN-Führungspositionen). Damit verspielen die Mitgliedsstaaten den Mehrwert einer gestärkten, wirklich multilateralen VN-Entwicklungskooperation zur Lösung globaler Nachhaltigkeitsprobleme.
Vor diesem Hintergrund ist der Bericht des Generalsekretärs eine verpasste Chance, dem Reformprozess und den mutigen Vorschlägen der Beratergruppe eine Absolution von höchster Ebene zu erteilen. Mit der Reform des Entwicklungssystems, das mit einem Haushalt von 28 Mrd. US-Dollar (2014) der mit Abstand größte Bereich der VN ist (zum Vergleich: Peacekeeping 8 Mrd.), steht schließlich auch eine Kernfunktion der VN auf dem Spiel, nämlich der Einsatz für eine nachhaltigere und gerechtere Welt. Entsprechende Reformen müssten Chefsache sein. Freilich ist der Generalsekretär derzeit eine „lame duck“: zu Ende des Jahres läuft seine Amtszeit aus und es ist nachvollziehbar, dass er seinem Nachfolger / seiner Nachfolgerin keine Großbaustellen aufreißen möchte. Aber er hätte sich schon statt am kleinsten gemeinsamen Nenner an den ambitioniertesten, aber noch realistischen Vorschlägen orientieren können. So richtet sich die Hoffnung nun auf die ersten 100 Tage des/der neu gewählten Generalsekretärs/in, in denen größere Strukturreformen angegangen werden können.
Andreas Grantner und Dr. Max-Otto Baumann
Dr. Max-Otto Baumann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn. Er forscht zum Thema Vereinte Nationen. Von März bis Juli hat er Prof. Töpfer in seiner Rolle als Ko-Vorsitzender der Beratergruppe unterstützt.
Andreas Grantner ist derzeit Praktikant am DIE. Nach einem Bachelorstudium zur Internationalen Entwicklung macht er nun seinen Master in Politikwissenschaft an der Universität Wien.