Debatte: Ungerechtigkeit reduzieren? UN reformieren!
In seinem Beitrag hat Albert Denk darauf hingewiesen, dass das „weniger Ungleichheits“-SDG10 wenig taugt, und eher die bestehenden Ungerechtigkeiten kittet. Eine seiner Fragen lautet: Wer entscheidet, wann Ungleichheiten ungerecht sind? Dazu würde auch ein kritisches Hinterfragen des Generalmottos der Agenda 2030, „Niemanden zurücklassen“, gehören. Wer definiert ‚Zurückgelassensein’, und wo ist das Selbstbestimmungsrecht derjenigen, die politisch, ökonomisch, sozial, genderpolitisch und durch die Auswirkungen der Klimakatastrophe benachteiligt sind?
Es macht wütend, dass die Hälfte der Menschheit in der Tat zurückgelassen oder ausgegrenzt ist und keines der Kern-SDG-Ziele – Ernährung, Gesundheit, Bildung, menschenwürdige Arbeitsbedingungen - bisher erreicht ist. Und das, obwohl diese seit 1948 versprochen, seit den 1960er Jahren in verbindliche Form gegossen, und in multiplen UN-Entwicklungsdekaden formuliert wurden.
Die Gründe für die Ungerechtigkeit liegen tief. Erstens gibt es im multilateralen Mainstream zu wenig offen-kritischen Diskurs über das Wesen der Weltwirtschaft. Wir haben es meines Erachtens mit einem entfesselten globalen Kapitalismus zu tun (wir können das System auch höflicher als Externalisierungsgesellschaft bezeichnen). Wenn die Analysen, die im UN-Verhandlungskontext entstehen, aber nicht thematisieren, dass in allen Ländern in indirekter oder direkter Form Profit vor Wohlergehen geht, und es strukturelle Gewalt und Machtgefälle gibt, dann können die beschlossenen Politikmaßnahmen nur an Symptomen herumdoktern: so wird dann etwa, wie Albert Denk aufzeigt, in den SDGs Einkommensungleichheit statt Vermögensungleichheit angegangen. Analog wird in SDG1 ein Einkommensarmutsindikator von $1,90 benutzt; extreme Armut in Ländern des globalen Südens wird aber längst in der Wissenschaft bei pro-Kopf-Einkommen von weniger als $10 pro Person pro Tag angesetzt. Damit wird aber die Ursache der stetig wachsenden ökonomischen Ungleichheit nicht an der Wurzel gepackt. Es heißt ja auch nur ‚Ungleichheit reduzieren’ – nicht eliminieren!
Zweitens, auch das ist im Denk-Beitrag angesprochen, ist die Unwucht im multilateralen angelegt, wie auch Juan Telleria oder Tetet Nera-Lauron zeigen. Nominell sind in der Generalversammlung alle Länder gleichberechtigt. Aber die einen sind von den anderen abhängig, und daher nicht frei in ihren Entscheidungen, sondern werden durch politischen Druck, geostrategische Konstellationen, oder schlicht über Entwicklungszusammenarbeitsgelder in bestimmte Allianzen gedrängt. Darüber hinaus ist der Multilateralismus, der sich nach 1945 zumindest verbal uneingeschränkt zu Menschenrechten bekannte, dadurch unterminiert, dass immer mehr Länder nicht (mehr) demokratisch sind. In vielen Ländern werden Menschenrechte nicht nur ignoriert: Menschenrechtsverteidigerinnen, Medienvertreter, Klimaaktivistinnen werden ermordet und diese Verbrechen gehen oft straffrei aus. Ähnlich destruktiv: in der EU und in den USA kommen Asylberwerberinnen und -bewerber ums Leben oder darben in nicht-menschenwürdigen Unterkünften. Der globale Süden, in der G77+China organisiert, ist oft diejenige Gruppierung in UN-Verhandlungsprozessen, die sich gegen Umverteilung und Gerechtigkeit und Gleichstellung in ihren eigenen Ländern stellt – wenngleich sie (zu Recht) eine Nord-Süd-Umverteilung einfordert. Wenn die gleichen Staaten, die so handeln, dann in den Verhandlungssälen des UN-Sekretariats in New York einem SDG10 zustimmen, ist das in der Tat sorgfältig zu hinterfragen.
Dennoch: In der beharrlichen Arbeit der zivilgesellschaftlichen Player in den Major Groups, oder in DGVN-Veranstaltungen, verteidigen wir mit Zähnen und Klauen die Agenda 2030. Sie ist nämlich der kleinste aber immerhin gemeinsame Nenner, auf den wir uns beziehen können gegenüber allen und einzelnen UN-Mitgliedsstaaten, um die zugesagten Verbesserungen anzumahnen und einzufordern. Denn, realpolitisch brauchen wir einen Verhandlungsanker, und bislang ist das immer noch die UN und der Multilateralismus.
Ein Ausweg – das stelle ich zur Diskussion - wäre ein sich-weg-Bewegen von der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat und eine Stärkung des UN-Sekretariats und ihrer Fonds/Sonderorganisationen als unabhängiger moralischer Kraft.
Was daher meines Erachtens unbedingt reformiert werden muss:
- Die Finanzierung der UN muss autonom werden. Seit Jahrzehnten gibt es den Vorschlag, die UN und ihre Organisationen aus globalen Steuern – zum Beispiel auf Börsengewinne oder CO2-Emissionen – zu finanzieren. Das würde es dem UN-Sekretariat und allen Agencies ermöglichen, energisch, und treu ihren Mandaten, aufzutreten, anstatt auf die politischen Interessen der jeweiligen Hauptgeber schielen zu müssen.
- Die Personalpolitik der UN muss umgestaltet werden. Die Posten im Management müssen nach inhaltlicher Qualifikation der Person UND nach ihrem objektiv-überprüften Track Record in Menschenrechtspolitik entschieden werden, anstatt sich geopolitischem oder budgetärem Druck zu beugen.
- Das UN-System in den einzelnen Ländern müsste auch neu gedacht werden. Ein positiver Trend ist, dass – interessanterweise parallel zum Umdenken des Entwicklungsbegriffs – UNDP, UNICEF und andere Organisationen jetzt verstärkt in den Ländern des Globalen Nordens auftreten, und Menschenrechtspolitik versuchen zu beeinflussen. In den „Programmländern“ – grob gesagt dem Globalen Süden – müsste das UN-System befähigt werden, sich von den Regierungen unabhängig zu machen. Das klingt nach Neokolonialismus, denn es hat in der Tat Jahrzehnte gebraucht, bis UN-Agencies vor Ort ihr Entwicklungsprogramm in einem UN Development Assistance Framework mit der jeweiligen Regierung abstimmen. Aber dadurch ist die Unabhängigkeit des UN-Systems stark verwässert bis ausgehebelt. Zum Beispiel darf das UN-Büro für Menschenrechte nur dann in einem Land auftreten, wenn die Regierung es genehmigt; und andere, anwesende UN-Agencies sind sehr vorsichtig im Aufzeigen von Menschenrechtsverletzungen. Das aber wäre meines Erachtens die Hauptaufgabe der UN vor Ort, denn aus der universell gültigen Erklärung der Menschenrechte lassen sich alle anderen Rechte ableiten.
Mit einem wiederhergestellten funktionierenden Kern-Multilateralismus hätten wir als progressive Zivilgesellschaft – auf die Albert Denk in seinem Beitrag setzt – viel mehr Rückenwind, uns mit Nachdruck an die Regierungen zu wenden. Denn schließlich sind sie es, die in der Pflicht sind, die Menschenrechte einzuhalten.
Gabriele Köhler ist Entwicklungsökonomin.
Hinweis: Die Autorin hat den Text in genderinklusiver Schreibweise verfasst. Aufgrund der Suchmaschinenoptimierung wurde diese von der Redaktion in eine binäre Schreibweise geändert.