Debatte: Vereinte Nationen fit für die Zukunft machen - Stärken stärken und Schwächen schwächen!

Die Vereinten Nationen sind immer nur so stark oder so schwach, wie die Mitgliedstaaten es zulassen. Diese Erkenntnis ist vermutlich so alt wie die Vereinten Nationen selbst, aber sie gilt heutzutage ganz besonders. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine markiert die sogenannten „Zeitenwende“. Mit ihr ging die „Post-Cold-War-Ära“ zu Ende, in der die Vereinten Nationen und internationale Kooperation insgesamt nach dem Ende des Kalten Krieges eine Hochphase erlebt hatten. Wir befinden uns noch nicht in einem neuen Kalten Krieg, aber doch in einem Systemkonflikt zwischen Demokratien und Autokratien, der internationale Kooperation erschwert. Das gilt nicht nur für den Krieg zwischen dem autoritären Russland und der demokratischen Ukraine, sondern auch für den Krieg zwischen der autoritären Terrororganisation Hamas und dem demokratischen Israel, die konfliktreichen Beziehungen zwischen der autoritären Volksrepublik China und dem demokratischen Taiwan sowie viele weitere Bereiche. Aber nur weil die Hochphase der internationalen Kooperation nun zu Ende ist, bedeutet das nicht, das die Vereinten Nationen nicht mehr gebraucht werden. Sie werden nur anders gebraucht als zuvor. Beim VN-Zukunftsgipfel geht es daher darum, die Vereinten Nationen an die neuen Gegebenheiten anzupassen, sie fit für die Zukunft zu machen. Ihre Stärken müssen gestärkt und ihre Schwächen müssen geschwächt werden.
Die Vereinten Nationen sind dort besonders stark, wo man der Organisation viel Handlungsspielraum gibt. Dort wo die Staaten ein Ziel vorgeben und sich nicht in das Mikromanagement einmischen, können die Vereinten Nationen gute Arbeit leisten. Das zeigt sich exemplarisch am UN-Welternährungsprogramm, das 2020 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, und beim UN-Flüchtlingshilfswerk, das für seine Arbeit diesen Preis bereits 1954 und 1981 erhielt. Solche humanitären Hilfeleistungen wurden in der Zeit des Kalten Krieges ebenso gebraucht wie danach. Und es ist leider absehbar, dass sie auch in Zukunft gebraucht werden. Daher müssen die UN-Organisationen gestärkt werden, die solche überlebenswichtige Arbeit leisten. Sie müssen von Bürokratie durch zu enge Zweckbindungen der Geber entlastet werden. Vereinbarungen zur Reduzierung der Zweckbindung, wie der „UN Funding Compact“ und der „Grand Bargain“, sind wichtige Maßnahmen dafür. Es ist gut, dass Deutschland diese Vorgaben nun einhält. Insgesamt werden die Vorgaben aber von der Staatengemeinschaft verfehlt, weil es zu vielen Ländern schwerfällt, ihre Geberbürokratie zu reformieren.
Eine weitere Stärke der Vereinten Nationen ist ihre zentrale Stellung in der regelbasierten internationalen Ordnung. Die universellen Werte der VN-Charta bilden de facto die Verfassung der Staatengemeinschaft und den Rahmen für den Multilateralismus. Diese regelbasierte internationale Ordnung ist für die große Mehrzahl der Staaten attraktiv, auch wenn sie im Inneren nicht demokratisch verfasst sind. Denn auch undemokratische Staaten möchten nicht gerne von ihren größeren Nachbarn drangsaliert, genötigt oder gar überfallen werden. Zu dieser regelbasierten internationale Ordnung gehört das Verbot des Angriffskriegs in Artikel 2 der VN-Charta, ebenso wie der Schutz der Menschenrechte, der schon in Artikel 1 der VN-Charta als zentrales Ziel aufgeführt wird. Russland und China versuchen immer wieder völkerrechtliche Grundsätze in Frage zu stellen, wenn sie ihrem Streben nach einer regionalen Vormachtstellung im Wege steht. Solchen Bemühungen, die regelbasierte internationale Ordnung durch neo-imperiale Einflusssphären zu verdrängen, müssen wir uns stets entschieden entgegenstellen. Zwischen den Staaten muss die Stärke des Rechts gelten, nicht das Recht des Stärkeren.
Doch die Vereinten Nationen haben auch Schwächen. Diese zeigen sich besonders dort, wo sie zum Spielball einzelstaatlicher Interessen werden. Wenn sie herausgefordert sind, unvereinbare und damit unerfüllbare Erwartungen zu erfüllen, sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Das sehen wir regelmäßig bei Blockaden im Sicherheitsrat, die in Zeiten des Systemkonflikt eher noch zunehmen werden. Langfristig ist die Reform des Sicherheitsrats ein gutes und richtiges Ziel, aber kurzfristig ist dieser große Wurf eher unwahrscheinlich. Daher gilt es, kleine Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Dazu zählt eine Stärkung und Aufwertung der Generalversammlung. Das haben uns auch Expertinnen und Experten wie Nicole Deitelhoff, Ekkehard Griep und Marianne Beisheim bestätigt, die wir als Sachverständige zu einer öffentlichen Anhörung im Bundestag zum Thema „Vereinte Nationen stärken“ eingeladen hatten. Zu solchen kleinen Schritten gehört die von den USA angekündigte Zurückhaltung bei der Nutzung des Vetorechts ebenso wie die von Liechtenstein ausgehende Veto-Initiative, durch die ein Veto im VN-Sicherheitsrat anschließend in der VN-Generalversammlung diskutiert wird.
Unter den Schwächen des Sicherheitsrates leiden auch die UN-Friedensmissionen, die auf Beschlüssen des Sicherheitsrats aufbauen. Das sehen wir beispielsweise in Mali und im Sudan, wo die UN-Friedensmissionen gescheitert sind und die Menschen dort nun unter Militärjuntas, Rebellengruppen und russischen Söldnern leiden. Es ist absehbar, das die Bedeutung von UN-Friedensmissionen in Zeiten des Systemkonflikts eher abnehmen wird. Die Vereinten Nationen werden weniger interventionistisch sein als in der „Post-Cold-War-Ära“. Das kann man auch bereits der „New Agenda for Peace“ entnehmen, die von Generalsekretär António Guterres in den Prozess für den UN-Zukunftsgipfel gegeben wurde. Sehr eindeutig wird dort gesagt, dass die Bedingungen der Agenda for Peace von 1992 nicht mehr gegeben sind. Daraus ergibt sich, dass die Vereinten Nationen als Organisation weniger ausrichten kann. Aber die Vereinten Nationen als Gruppe von Mitgliedstaaten stehen weiterhin in der Verantwortung für den Weltfrieden. Dabei können die Vereinten Nationen weiterhin eine wichtige Rolle als regelbasierter Rahmen spielen.
Denn die Vereinten Nationen und ihre Charta sind das Fundament für die regelbasierte, liberale Weltordnung. Viele UN-Mitgliedstaaten mögen zwar illiberal sein, aber die Institution selbst hat sich durch ihre Statuten liberalen Zielen wie den Menschenrechten verpflichtet. Deshalb ist für uns Liberale die Stärkung der Vereinten Nationen ein Kernanliegen und deshalb haben wir diesen Punkt auch innerhalb der Ampel vorangetrieben. Bereits im Ampel-Koalitionsvertrag konnten wir festhalten, dass wir uns für eine Stärkung der Vereinten Nationen einsetzen. Was das im Detail bedeutet, haben wir in einem Antrag zur Stärkung der Vereinten Nationen festgehalten, den wir auf Initiative der FDP gemeinsam mit unseren Koalitionspartnern SPD und Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag eingebracht haben und der schließlich vom Bundestag im September 2023 beschlossen wurde.
Es freut uns daher ganz besonders, dass Deutschland zusammen mit Namibia durch die Verhandlungsführung Verantwortung für die Vorbereitung des UN-Zukunftsgipfels übernommen hat. Der Gipfel stellt den Höhepunkt eines mehrjährigen Reformprozesses dar und soll die Vereinten Nationen fit für die Zukunft machen. Ziel muss sein, die regelbasierte internationale Ordnung – und die Vereinten Nationen als zentrale multilaterale Institution – derart zu gestalten, dass es für die Staaten im ureigenen Interesse ist, sich für die regelbasierte internationale Ordnung mit all ihren Rechten und Pflichten einzusetzen. Die multilaterale Ordnung braucht Widerstandsfähigkeit gegen Aushöhlungsversuche autoritärer Staaten, die auf ihren Hegemonialanspruch zugeschnittene Parallelorganisationen etablieren wollen. Nur so kann das multilaterale System von innen heraus gestärkt und gegen die gezielte Unterwanderung durch China, Russland und andere „Spoiler“ verteidigt werden.
Ulrich Lechte, MdB, Außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion