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Debatte: Vom selektiven zum solidarischen Multilateralismus

Die verschiedenen Bundesregierungen haben in den 50 Jahren deutscher UN-Mitgliedschaft meist die Politik eines selektiven Multilateralismus betrieben. Der Zukunftsgipfel bietet eine gute Gelegenheit, zu zeigen, dass Deutschland die berechtigten Interessen der Länder des Globalen Südens ernst nimmt.

Die stellvertretende Generalsekretärin Amina Mohammed (links) und Svenja Schulze, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zeigen aus einem Fenster.
Die stellvertretende Generalsekretärin Amina Mohammed (links) und Svenja Schulze, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. (UN Photo/Eskinder Debebe)

In den Phasen ihrer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat oder in den Verhandlungen über die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung engagierte sich die deutsche Bundesregierung mit Vollgas. Bei Initiativen, die auf die Stärkung der UN im Bereich internationaler Wirtschafts- und Finanzpolitik zielen, stand sie dagegen häufig auf der Bremse. Im Sinne eines solidarischen Multilateralismus sollte die jetzige Regierung unter Beweis stellen, dass sie die berechtigten Interessen der Länder des Globalen Südens gerade in diesem Bereich ernst nimmt. Der UN-Zukunftsgipfel 2024 bietet dafür eine gute Gelegenheit.

Deutsche Politikerinnen und Politiker haben in den 50 Jahren der Mitgliedschaft Deutschlands in den Vereinten Nationen immer wieder die herausragende Bedeutung der Weltorganisation betont. Erst jüngst erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede vor der UN-Generalversammlung:

„Wer in einer multipolaren Welt nach Ordnung sucht, der muss hier, bei den Vereinten Nationen, beginnen. Deshalb unterstützt Deutschland das UN-System und leistet als zweitgrößter Geber nach den Vereinigten Staaten aus voller Überzeugung seinen Beitrag. Nur die Vereinten Nationen ‑ auf Basis der Werte, die in ihrer Charta verkörpert sind ‑ lösen den Anspruch universeller Repräsentanz und souveräner Gleichheit aller vollumfänglich ein. Das gilt weder für die G7 oder die G20 ‑ so wichtig sie für die weltweite Abstimmung sind ‑ noch für BRICS oder andere Gruppen.“

Recht hat er. Und tatsächlich hat Deutschland sein Engagement in den UN gerade in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen verstärkt.

In den Verhandlungen über die Agenda 2030 und im anschließenden Umsetzungsprozess demonstrierte die Bundesregierung ihre aktive Unterstützung für die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDGs). Beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme - UNDP) war Deutschland zwischenzeitlich größter bilateraler Geber, 2022 landete es im Geberranking knapp hinter Japan auf Platz 2.

Deutscher Multilateralismus: von Ambivalenz geprägt

Auch in der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization - WHO) gehört Deutschland zu den wichtigsten Unterstützern und war in den Corona-Jahren 2020-2021 mit Abstand größter Beitragszahler. Gleichermaßen wichtig ist dort die politische Unterstützung. Deutschland hat sich gemeinsam mit Frankreich in einem Reformpapier vom Juli 2020 für eine substantielle Stärkung der WHO eingesetzt. Das betrifft unter anderem ihre Koordinationsfunktion in der globalen Gesundheitsarchitektur. Gleichzeitig macht sich Deutschland für eine stufenweise Erhöhung des Anteils der Pflichtbeiträge am WHO-Budget stark – ein längst überfälliger Schritt, um die Handlungsfähigkeit der WHO zu stärken.

Die globale Gesundheitspolitik ist aber auch ein Beispiel dafür, dass die multilaterale Politik Deutschlands keineswegs aus einem Guss ist. Denn während sich die Bundesregierung einerseits für eine Stärkung der WHO einsetzt, widersetzte sie sich andererseits mit ihren EU-Partnern Forderungen der Länder des Globalen Südens, im Sinne globaler Impfgerechtigkeit den Patentschutz für COVID-19-relevante Impfstoffe, Medikamente und Geräte in der Welthandelsorganisation (World Trade Organization - WTO) vorübergehend auszusetzen.

Ähnlich sieht es auch bei anderen Prozessen aus, die die internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik betreffen. Bei zahlreichen brisanten Themen, von der Verhinderung und Überwindung von Schuldenkrisen bis hin zur internationalen Steuerkooperation, gehörte Deutschland in den letzten Jahren zu den Bremsern.

Beispiel Schuldenmanagement

Die UN-Generalversammlung hat sich bereits 2014 mit der Schaffung eines fairen Verfahrens zur Bewältigung von Staatsschuldenkrisen unter dem Dach der UN befasst. Der Prozess wurde maßgeblich von den in der G77 zusammengeschlossenen Ländern des Globalen Südens vorangetrieben. Deutschland und einige andere Staaten blieben der speziell dafür eingesetzten Arbeitsgruppe fern, weil sie der UN die Zuständigkeit für die Behandlung dieses Themas absprachen. Dennoch verabschiedete die Generalversammlung 2015 mit überwältigender Mehrheit Grundprinzipien für Verfahren zur Umstrukturierung von Staatsschulden (Basic Principles on Sovereign Debt Restructuring Processes). Gegen die Resolution stimmten lediglich sechs Länder, darunter Deutschland.

Beispiel internationale Steuerkooperation

Bereits seit Jahren wird von Ländern der G77, Expertengremien und zivilgesellschaftlichen Organisationen die substantielle Stärkung der internationalen Steuerkooperation unter dem Dach der Vereinten Nationen gefordert. Sie soll dazu beitragen, Steuerflucht und schädlichen Steuerwettbewerb weltweit zu bekämpfen. Für die Befürworter besteht ein wesentliches Problem im Fehlen eines universellen Forums, in dem alle Regierungen, egal ob aus dem Globalen Norden oder Süden, gleichberechtigt beteiligt sind. Um dieses Problem anzugehen, brachte Nigeria im Oktober 2023 im Namen der afrikanischen Länder eine Resolution zur internationalen Steuerkooperation in der UN-Generalversammlung ein. Sie sieht vor, den Prozess hin zu einer völkerrechtlich bindenden Rahmenkonvention über die internationale Zusammenarbeit im Steuerbereich zu beginnen. Die Resolution wurde am 22. November 2023 in der UN-Generalversammlung mit großer Mehrheit verabschiedet. Deutschland stimmte im Verbund der westlichen Industrieländer dagegen.

Alles in allem betreibt Deutschland in den Vereinten Nationen bisher häufig die Politik eines selektiven Multilateralismus. Aber eine kohärente Stärkung der UN im Sinne der Agenda 2030 und der in SDG 17 beschworenen Globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung erfordert gerade in den „harten“ wirtschafts- und finanzpolitischen Bereichen die faire und gleichberechtigte Beteiligung aller Länder, einschließlich der Länder des Globalen Südens. Und dies ist nur in den UN möglich und nicht in exklusiven Clubs wie der G20 oder der OECD. Grundsätzlich hat dies auch der Bundeskanzler bestätigt (siehe oben).

Solidarischer statt selektiver Multilateralismus

Die Bundesregierung sollte daher unter Beweis stellen, dass sie bereit ist, einen solidarischen Multilateralismus unter dem Dach der Vereinten Nationen zu fördern. Gelegenheit bietet dazu der UN-Zukunftsgipfel (Summit of the Future), der im September 2024 stattfinden soll. Dort soll die Reform der internationalen Finanzarchitektur ein Schwerpunktthema bilden. Dabei geht es um ein breites Themenspektrum, von der Reform der Internationalen Finanzinstitutionen über die Entwicklungs- und Klimafinanzierung, die Prävention und Bewältigung von Schuldenkrisen und Reformen der globalen Steuerarchitektur bis zur Regulierung der globalen Finanzmärkte.

Für die Koordination der Verhandlungen sind die Ständige Vertreterin Deutschlands bei den Vereinten Nationen in New York, Antje Leendertse, und der Ständige Vertreter Namibias, Neville Melvin Gertze, zuständig. Deutschland spielt in diesem Prozess damit eine wichtige Rolle, aus der sich eine besondere Verantwortung, aber auch politische Gestaltungsmöglichkeiten ergeben.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen bietet der Zukunftsgipfel die Chance, multilaterale Zusammenarbeit auf Weltebene wiederzubeleben und einige längst überfällige Reformen im internationalen System anzustoßen. Deutschland sollte sich dafür stark machen, diese Chance zu nutzen. Damit würde die Bundesregierung signalisieren, dass sie die berechtigten Interessen der Länder des Globalen Südens auch im Bereich der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik ernst nimmt.

Jens Martens, Geschäftsführer des Global Policy Forums Europe


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