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Drohende 'Hunger-Pandemie' abwenden

Bis Ende 2020 könnte sich die Zahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, auf 265 Millionen fast verdoppeln, warnt David Beasley, Direktor des Welternährungsprogramms. Damit die Corona-Pandemie keine Hunger-Pandemie nach sich zieht, braucht es gezielte Anstrengungen und internationale Hilfe.

Foto: Sonia Nguyen/FAO
Foto: Sonia Nguyen/FAO

Die Corona-Krise nimmt noch nie dagewesene Ausmaße an. Beschränkungen des öffentlichen Lebens greifen tief in alle Lebensbereiche ein. Besonders in Entwicklungsländern, aber auch in reicheren Ländern mit vielen armen Menschen, gefährden sie die Ernährungssicherheit. Hinzu kommt die Gefahr einer Rezession.

Schon heute zeigt sich, wie die Pandemie überall auf der Welt Volkswirtschaften ausbremst, Einkommenseinbußen und Arbeitsplatzverluste zur Folge hat. Sie kann dazu führen, dass sich immer mehr Menschen gesunde und nahrhafte Lebensmittel kaum noch leisten können. Ein Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, der erschwerte Zugang zu Märkten, Versorgungsengpässe und steigende Lebensmittelpreise treffen als erstes und besonders dramatisch die Armen. Bilder indischer Tagelöhner, die versuchen, im 'Lockdown' aus den Großstädten in ihre Dörfer zurückzukehren, gingen um die Welt wie auch die Bilder einer kilometerlangen Warteschlange vor einer karitativen Lebensmittelausgabe und von Plünderungen von Lebensmittelgeschäften in Südafrika. In Industrieländern bemühen sich soziale Einrichtungen wie die 'Tafeln', unter erschwerten Bedingungen die Versorgung einer wachsenden Zahl an Bedürftigen aufrecht zu erhalten.

In Entwicklungs- und Schwellenländern leben viele der Armen in den Slums der Städte von der Hand in den Mund. Ohne Einkommen, ohne Ersparnisse oder Vorräte und ohne Möglichkeiten zur Selbstversorgung leiden sie Hunger und sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Auf dem Land können Felder nicht bestellt werden, wenn Corona-bedingte Ausgangssperren den Transport von Saatgut und Düngemitteln be- oder verhindern und Arbeitskräfte in der Landwirtschaft fehlen. Wo Ernten nicht eingebracht werden können oder die Märkte nicht erreichen, verlieren Bauern ihr Einkommen und die Bevölkerung den Zugang zu dringend benötigten Lebensmitteln.

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) warnt, dass aufgrund von Schulschließungen derzeit 370 Millionen Kinder weltweit ihre Schulmahlzeiten nicht erhalten. In Indien ist für viele Kinder das Schulessen die einzige warme Mahlzeit am Tag.

Besonders hart betroffen sind auch Geflüchtete fern ihrer Heimat. In vielen Krisen- und Konfliktgebieten ist die Versorgung der Menschen von Hilfslieferungen abhängig. Die aber sind durch die Corona-Krise sowohl finanziell als auch logistisch schwierig zu leisten.
 

Hunger schon vor Corona

In vielen Ländern war die Ernährungslage schon vor der Corona-Krise besorgniserregend. Laut dem Welternährungsbericht (The State of Food Security and Nutrition in the World – SOFI) vom Juli 2019 waren in den Jahren von 2016 bis 2018 durchschnittlich rund 821,6 Millionen Menschen chronisch unterernährt. 45 Prozent aller Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren waren auf Mangelernährung zurückzuführen – daran starben 3,1 Millionen Kinder pro Jahr.

Seit dem Jahr 2015 nimmt die Zahl der Hungernden wieder zu. 2015 ist auch das Jahr, in dem sich die Weltgemeinschaft mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verpflichtet hat, innerhalb von 15 Jahren allen Menschen, insbesondere den Armen und Menschen in prekären Situationen, ganzjährig Zugang zu sicheren, nahrhaften und ausreichenden Nahrungsmitteln zu ermöglichen. Aufgrund der COVID-19-Pandemie und ihren Folgen drohen nun jedoch gravierende Rückschläge.

Der Welternährungsbericht zeigt, dass sich 65 der 77 Länder, in denen die Unterernährung zwischen 2011 und 2017 zunahm, gleichzeitig in einer Rezession oder Wirtschaftskrise befanden. Angesichts der düsteren Wirtschaftsaussichten in Folge der Corona-Pandemie ruft die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in einem aktuellen „Policy Brief“ dazu auf, die Wirtschafts- und Sozialpolitik darauf auszurichten, negative Folgen auf die Ernährungslage abzufedern. Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft müssen darauf abgestellt werden, Hunger und Unterernährung zu verhindern.
 

Am schlimmsten betroffene Länder

Wie sich akute Ernährungsunsicherheit in den derzeit am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt darstellt, zeigt der im April erschienene gemeinsame Bericht Global Report on Food Crises (GRFC) 2020 der FAO, des Welternährungsprogramms (WFP) und 14 weiterer Partnerorganisationen. Laut den Schätzungen war im Jahr 2019 die Ernährungslage von fast 135 Millionen Menschen in 55 Ländern oder Gebieten krisenhaft oder sogar katastrophal. Dies ist die höchste Zahl seit vier Jahren. Besonders schlimm ist die Lage im Jemen, in der Demokratischen Republik Kongo und in Afghanistan, gefolgt von Venezuela, Äthiopien, Südsudan, Syrien, Sudan, Nigeria und Haiti. Zu den Hauptursachen, die Hungersnöte verursachen oder verschärfen, zählen anhaltende gewaltsame Konflikte, aber auch Klimakatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen und derzeit zudem die Heuschreckenplage im östlichen Afrika.
 

Zusätzliche Risiken durch die Corona-Pandemie

Da die Datenerhebung und Analysen des Global Report on Food Crises vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie abgeschlossen waren, wurde der Bericht um einen 'Pandemic Alert' ergänzt. Darin wird zu raschem gemeinsamen Handeln gedrängt: Es müssen jetzt vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden, um den Lebensunterhalt besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen und die Funktionsfähigkeit landwirtschaftlicher Produktionssysteme und nationaler wie internationaler Versorgungsketten sicherzustellen. Solche Maßnahmen müssen im Einklang mit den Gesundheitsvorkehrungen stehen und zwischen Regierungen, Hilfs- und Entwicklungsorganisationen abgestimmt sein. Auch wenn Geber sich in Folge der Pandemie auf akuten Handlungsbedarf in ihren eigenen Ländern zurückgeworfen sehen, müssen sie weiterhin auch dort dringend humanitäre Hilfe leisten, wo die Ernährungslage besonders unsicher und die Bevölkerung besonders gefährdet ist.
 

Gefahr durch Abhängigkeit von Importen

Gewarnt wird auch vor panikgesteuerten Reaktionen wie im Falle der Nahrungsmittelkrise in den Jahren 2007/08. Damals kam es zu Exportbeschränkungen und der Aufstockung von Vorräten durch Importe. Das wiederum führte zu Marktstörungen und hatte gravierende Auswirkungen auf Länder mit niedrigem Einkommen, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind.

Laut der Entwicklungsorganisation Brot für die Welt besteht die Gefahr, dass hohe Nahrungsmittelpreise und Lieferengpässe vor allem die Entwicklungsländer besonders hart treffen, die jetzt schon Nettoimporteure von Nahrungsmitteln sind. Die Corona-Krise zeige die Risiken einer zu starken Konzentration auf internationale Liefer- und Wertschöpfungsketten und einer hohen Abhängigkeit vom Weltmarkt bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln. Die Bundesregierung sollte in der Entwicklungszusammenarbeit jetzt und in Zukunft noch stärker einen Fokus darauf legen, gefährdete Länder bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln unabhängiger von Importen zu machen, fordert Bernhard Walter, Referent für Ernährungssicherheit bei Brot für die Welt. Entwicklungsminister Gerd Müller kündigte Ende April gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio an, im Rahmen eines Corona-Soforthilfeprogramms jeden fünften Euro für die Hungerbekämpfung bereitstellen zu wollen.

Um trotz der zu erwartenden Rückschläge das zweite Ziel für nachhaltige Entwicklung, nämlich bis zum Jahr 2030 weltweit den Hunger zu beenden, erreichen zu können, muss die Nahrungsmittelversorgung krisenfester werden. Mit der Corona-Pandemie, der Rezessionsgefahr, dem Klimawandel und anhaltenden Konflikten steht die Weltgemeinschaft vor enormen Herausforderungen, die nur gemeinsam zu lösen sein werden.

Christina Kamp
 

Weitere Informationen:

Transkript des Statements von WFP-Direktor Davic Beasley vor dem UN-Sicherheitsrat, 21.4.2020: WFP Chief warns of hunger pandemic as COVID-19 spreads

Interaktive Welthungerkarte des Welternährungsprogramms (WFP), zeigt fast in Echtzeit Daten zur Ernährungssituation in mehr als 90 Ländern.


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