Ein Menschenrecht auf Abtreibung? Konfliktstoff für die Vereinten Nationen
Der Beschluss des Verfassungsgerichts, das durch die rechtskonservative Regierungspartei PiS kontrolliert wird, bedeutet weitreichende Konsequenzen für die Rechte und Freiheiten der Frau im katholisch geprägten Polen. Die vorige Regelung erlaubte eine offizielle Abtreibung nur bei starker Schädigung des Fötus, bei lebensbedrohlicher Gefahr für die Frau oder nach Vergewaltigung und Inzest. Nun erklärte das Verfassungsgericht auch die Abtreibung bei schweren Fehlbildungen des Fötus für illegal. Eine Geburt muss nun also auch dann erfolgen, wenn schon zuvor bekannt ist, dass das Baby nicht lebensfähig ist oder eine schwere Behinderung haben wird.
Verbote führen zu illegalen Abtreibungen
Eine Studie des Guttmacher Instituts belegt, dass Abtreibungsverbote viele schwangere Frauen zu illegalen und unsicheren Abtreibungen zwingen. Tatsächlich sind acht bis elf Prozent aller Todesursachen von Müttern weltweit auf Abtreibung zurückzuführen. In Polen gibt es jährlich lediglich etwa 1100 Abtreibungen – 98 Prozent davon aufgrund von Malformationen des Embryos. Frauenrechtsorganisationen schätzen, dass zudem bis zu 150.000 Polinnen Abtreibungen illegal oder im Ausland durchführen. Besonders sozio-ökonomisch benachteiligte Frauen haben allerdings nicht die Möglichkeit, einen Schwangerschaftsabbruch im Ausland durchzuführen, was auch die gesellschaftlich bedingten Ungleichheiten im Land vergrößert. Vor allem in Entwicklungsländern, in denen Abtreibungen meist verboten sind, werden diese in der Regel illegal und ohne die minimalen medizinischen Standards durchgeführt. Die Frauen werden damit einer enormen gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt.
Regelungen im internationalen Recht
Die Vertragsstaaten der Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, CEDAW) verpflichten sich zu einer rechtlichen und faktischen Gleichstellung von Frauen. Artikel 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights, ICCPR) erkennt zudem das „Recht auf Leben“ als höchstes Recht des Menschen an. Das Wort „Abtreibung“ wird weder in der CEDAW noch dem ICCPR genannt. Der Umgang mit der Frage der Abtreibung kann also mit der Formulierung des Artikel 6 nicht geklärt werden.
Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen veröffentlichte allerdings im September 2019 die Allgemeine Erklärung Nr. 36, die Artikel 6 und das Recht auf Leben konkretisiert. Der Ausschuss, ein unabhängiges Expertengremium, hebt hervor, dass Staaten durch eine Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht das Recht der Schwangeren verletzen dürfen. Die Vertragsstaaten des ICCPR müssten aus diesem Grund Abtreibungen gewährleisten, wenn das Leben und die Gesundheit der Frau gefährdet sind. Es sei stattdessen die Aufgabe der Mitgliedsstaaten, die Gesundheit der Frauen zu gewährleisten und sicherzustellen, dass sie nicht dem Risiko illegaler Abtreibungen ausgesetzt werden. Bestehende Barrieren sollten abgebaut und illegale Abtreibungen eher durch Entkriminalisierung verhindert werden. Zusätzlich müsse ein allgemeiner Zugang zu Bildung über sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie zu Verhütungsmitteln gewährleistet werden. Die internationalen Menschenrechtsmechanismen erkennen Abtreibungsverbote also als Diskriminierung der Rechte der Frau an.
Abtreibung, die Vereinten Nationen und die SDGs
Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) und weitere UN-Einrichtungen versuchen, die bestmöglichen Standards an sexuellen und reproduktiven Rechten zu erreichen, wobei Abtreibung hierbei als essentielle Komponente angesehen wird. Dennoch befördern die UN nicht die Abtreibung an sich, sondern stellen die freiwillige Familienplanung in den Vordergrund ihres Handelns. Durch die Stärkung der nationalen Gesundheitssysteme und die Entkriminalisierung von Abtreibungen sollen besonders illegale Abtreibungen verhindert und die Gesundheit der Frauen geschützt werden. Die jeweiligen rechtlichen Regelungen der Staaten werden hierbei respektiert.
Die Gesundheit der schwangeren Frauen wurde bereits mit dem Millennium Development Goal 5 zur Senkung der Müttersterblichkeitsrate um drei Viertel und dem allgemeinen Zugang zu reproduktiver Gesundheit thematisiert – ein Ziel, das als „unfinished business“ betrachtet wird. Die Expertinnen und Experten der UN Working Group on Discrimination against Women unterstreichen, dass die Instrumentalisierung und Politisierung des weiblichen Körpers zur Diskriminierung der Frauen führe – besonders, wenn es sich um den Gesundheitsbereich handele. Mit dem Sustainable Development Goal (SDG) 5 zielen die UN darauf, bis zum Jahr 2030 weltweit Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Sexuelle Rechte, Abtreibung und eine umfassende Sexualerziehung seien wichtig, um die Erreichung von sowohl SDG 5 als auch SDG 3 „Gesundheit und Wohlergehen“ zu unterstützen. Mit der Verschärfung der Abtreibungsgesetze gibt es selbst in Europa Rückschritte im Hinblick auf SDG 3 und 5 und das in einer Zeit, in der Erfolge in der Erreichung der SDGs essentiell sind.
Rückschritte für die Geschlechtergerechtigkeit weltweit
Die UN empfahlen Polen im Jahr 2014, dass die Abtreibungsregelungen gelockert werden sollten. Aber nicht nur die polnischen Regulierungen werden durch die UN kritisiert: Erst im Frühjahr 2020 wendeten sich mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen an die UN, um die Bundesregierung aufzufordern, eine Anpassung des umstrittenen Artikels 218 des Strafgesetzbuchs – der bereits seit 1872 existiert – vorzunehmen. Die Situation der reproduktiven Rechte sei in Deutschland im europäischen Vergleich rückständig, was eine adäquate Umsetzung der CEDAW und das Erreichen von Geschlechtergerechtigkeit verhindere. Die Bundesregierung weist die Kritik der Organisationen zurück und eine Umsetzung der letzten Empfehlungen des CEDAW-Ausschusses steht noch aus.
Auch in einigen Bundesstaaten der USA wurden im Zuge der Corona-Pandemie Abtreibungen unmöglich gemacht, was durch unabhängige Expertinnen und Experten der UN scharf kritisiert wird. So würden aktuell in acht Bundesstaaten Abtreibungen aufgrund von Corona-Notverordnungen so stark verzögert, bis sie unmöglich gemacht werden. Erst Ende Oktober unterzeichneten die USA außerdem gemeinsam mit 32 weiteren und größtenteils autoritären Staaten eine Anti-Abtreibungserklärung. Die meisten Unterzeichnerstaaten dieser „Geneva Consensus Declaration“ finden sich unter den letzten 20 Plätzen des Women, Peace and Security Index der Georgetown University wieder. Auch Polen, Belarus und Ungarn haben ihre Unterschrift unter die Erklärung gesetzt.
In Polen gehen die Proteste der Frauen und Männer gegen das Abtreibungsverbot derweil weiter.
Carolin Funcke