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Eine Perspektive jenseits des Multilateralismus

Internationale Institutionen - auch die Vereinten Nationen - können nur so stark sein, wie die Mitgliedstaaten es zulassen. Globale Abhängigkeiten erfordern aber ein beherztes und vor allem demokratisch legitimiertes Handeln. Die demokratische Reform der UN ist das Gebot der Stunde.

Eine Menschenschlange vor einem Wahllokal bei den Parlamentswahlen in Timore-Leste.
Menschenschlange vor einem Wahllokal bei den Parlamentswahlen in Timore-Leste. (UN Photo/Martine Perret)

Die Coronavirus-Pandemie macht es für jeden greifbar, dass alle Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden sind.

Umwelt, Soziales, Gesundheit, Wirtschaft, Finanzen oder Technologie stehen zunehmend in einem globalen Zusammenhang. Schwachstellen und Probleme, wie sie nun bei der Ausbreitung von COVID-19 offenbar geworden sind, können schwerwiegende Folgen für die ganze Weltgemeinschaft haben.
 

Die Schwäche internationaler Organisationen ist strukturell

Die Staaten haben Dutzende zwischenstaatliche Institutionen und Foren geschaffen, die sich mit internationalen Fragen beschäftigen. Diese sind allerdings schwach und können nicht unabhängig handeln. Sie sind Werkzeuge ihrer Mitgliedsstaaten.

Wenn Regierungen nicht willens oder in der Lage sind, ein gemeinsames Vorgehen zu unterstützen, sind Organisationen wie der UNO und der WHO die Hände weitgehend gebunden. Nach wie vor bestimmen Souveränitätsansprüche das Bild der internationalen Politik.

Da die internationale Zusammenarbeit stets auf Freiwilligkeit beruht, gehören Krisen zur DNA des Multilateralismus. Eine Stärkung des Multilateralismus anzustreben ist daher für sich alleine genommen ein Irrweg.

Die Realpolitik der Gegenwart ist von geopolitischen Spannungen, nationalistisch-autoritären Kräften sowie von Angriffen auf die Freiheit, die Menschenrechte und die Demokratie geprägt. Von einer Autokratisierung der Staatenwelt sowie von der Entwicklung eines autoritären Völkerrechts ist die Rede. Dem muss eine neue progressive Vision entgegengesetzt werden.

Es gibt eine Fülle von globalen Risiken, Bedrohungen und Herausforderungen, die die Leistungsfähigkeit der zwischenstaatlichen Kooperation übersteigen. Ein tödlicherer Virus als COVID-19 wird früher oder später wahrscheinlich ausbrechen, entweder auf natürliche Weise, absichtlich oder durch einen Unfall. Die Klimakrise verschärft sich. Die Bedrohung durch Atomwaffen besteht weiter.
 

Zusammenarbeit jenseits der globalen Kleinstaaterei

Globale Institutionen müssen mit der Macht ausgestattet werden, die sie zur Bewältigung dieser Bedrohungen und zum Management globaler Gemeingüter wie der Atmosphäre benötigen. Sie brauchen unabhängige Legitimität, Kompetenz und Finanzierung. Im Klartext bedeutet das eine Perspektive supranationaler Kooperation, die über bloßen Multilateralismus und globale Kleinstaaterei hinausgeht.

Vor zwei Jahren sagten 82 Prozent der Befragten bei einer Umfrage in zehn Ländern in allen Weltregionen, dass die UN reformiert werden müssen, um den gegenwärtigen und zukünftigen globalen Herausforderungen besser begegnen zu können. 69 Prozent stimmten zu, dass eine supranationale Organisation in der Lage sein sollte, „durchsetzbare globale Entscheidungen zur Bewältigung globaler Risiken zu treffen“. Diese Meinungslage muss in politischen Druck umgesetzt werden.

Mit einem umfassenden Reformvertrag, der im Rahmen einer Konferenz zur Überprüfung der UN-Charta ausgehandelt wird, könnte eine neue Weltorganisation gegründet und das heutige fragmentierte und schwache UN-System ersetzt werden. Ein unverzichtbares Element einer solchen Weltorganisation wäre ein globales Parlament, das alle Bürgerinnen und Bürger der Welt vertritt.

Zwischenstaatliche Gremien, in denen die Vertretung der Bevölkerung durch Karrierediplomaten und -diplomatinnen vermittelt wird, die von den Regierungen ernannt werden, verfügen nicht über die demokratische Legitimität für verbindliche Entscheidungsbefugnisse, selbst wenn diese streng auf Angelegenheiten von globaler Bedeutung beschränkt sind.

Die Verteilung der Sitze in einem globalen Parlament sollte sich an der Bevölkerungszahl orientieren. Dies führt uns zu einer künftigen Weltorganisation, die Václav Havel, der erste Präsident der Tschechischen Republik, vor zwanzig Jahren auf dem UN-Millenniumsgipfel befürwortet hat: eine Organisation basierend auf einer Versammlung von Delegierten der Mitgliedsstaaten und einer anderen, die von den Weltbürgerinnen und Weltbürgern gewählt wird.
 

Konkrete Schritte für mehr Demokratie sind möglich

Nach Stand der Dinge scheinen eine Weltdemokratie und eine neue Weltorganisation, so sehr sie auch nötig sind, um die Zukunft der Menschheit zu sichern, in weiter Ferne zu liegen.

Erste Schritte sind jedoch jetzt möglich. Unter Nutzung ihrer Befugnisse zur Einrichtung von Nebenorganen könnte die UN-Generalversammlung eine Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen schaffen, die Informations-, Kontroll- und Mitwirkungsrechte hat, ohne dass eine Charta-Reform oder die Zustimmung des Sicherheitsrates erforderlich wäre.

Anstelle von Direktwahlen könnte sich diese Versammlung pragmatisch aus nationalen Abgeordneten zusammensetzen, einschließlich solchen der Opposition, sofern es sie gibt.

Wenn es eine Parlamentarische Versammlung bei der UNO gäbe, könnte sie auf die jüngsten Forderungen nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung reagieren und sich mit den Ursachen, dem Ursprung, den Reaktionen und den Lehren aus der COVID-19-Pandemie befassen, einschließlich einer kritischen Begutachtung internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen selbst und der WHO.

Die Versammlung könnte einen Untersuchungsausschuss einsetzen und verschiedenste internationale Beamte, Experten und Vertreter der Zivilgesellschaft aus der ganzen Welt hören. Mit öffentlichen Anhörungen auf der Grundlage ihrer diversen Mitgliedschaft würde sie mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht schaffen. Der Mangel an angemessenen parlamentarischen Kapazitäten dieser Art auf der globalen Ebene stellt ein großes Demokratie- und Regierungsdefizit dar, das behoben werden muss.
 

Ein Motor für Veränderungen

Derweil sollten Abgeordnete und Parlamente weltweit in Erwägung ziehen, eine solche internationale parlamentarische Untersuchung ad hoc durchzuführen. Dies könnte den Weg zu einem UN-Parlament weisen.

Was der Welt vielleicht am meisten fehlt, ist ein wirksamer Motor für politische Veränderungen, der dazu beiträgt, Jahrzehnte der Sackgasse zu überwinden. Wir müssen einen institutionellen Weg aufbauen, der zu einer demokratischen, friedlichen, gerechten und nachhaltigen Welt führt. Eine Parlamentarische Versammlung bei der UNO könnte dieser Motor sein.
 

Andreas Bummel


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