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Debatte: Haftbefehl gegen Wladimir Putin – der ICC vor neuen Herausforderungen

Der im März 2023 erlassene Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten stieß bei vielen auf Überraschung. Wie ist die Entscheidung des ICC einzuordnen? Ein Meinungsbeitrag.

Chefankläger Karim Khan im Fokus.
Chefankläger Karim Khan. (UN Photo/Evan Schneider)

Am 17. März 2023 machte der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) auf der Webseite bekannt, dass die Vorverfahrenskammer II einen Haftbefehl gegen den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, erlassen hat. Der Haftbefehl selbst wurde aus Gründen des Zeugenschutzes nicht veröffentlicht. Der ICC begründete die Entscheidung, dennoch die Existenz des Haftbefehls publik zu machen, mit der Notwendigkeit der Abschreckung weiterer Taten. Die Konfliktbeteiligten sollen sich darüber im Klaren sein, dass ein Fehlverhalten auf dem Schlachtfeld zu einer Anklage in Den Haag führen kann.

Die Auswahl des Tatvorwurfs

Der Pressemitteilung des ICC lässt sich entnehmen, dass der Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten wegen des Verdachts von Kriegsverbrechen sich auf folgenden Vorwurf stützt. Putin soll die strafrechtliche Verantwortung dafür tragen, dass zahlreiche ukrainische Kinder auf russisches Territorium verschleppt worden sind. Dies habe Putin entweder angeordnet oder zumindest nicht unterbunden. Das in Rede stehende Verhalten sei nach Artikel 8(2)(a)(vii) und 8(2)(b)(viii) des Römischen Statuts als verbotene Vertreibung beziehungsweise Überführung strafbar.

Angesichts der in der Presse berichteten Gräueltaten (Erschießungen, Folter, Angriffe auf zivile Einrichtungen und Zivilpersonen) mag die Auswahl des Vorwurfs zunächst überraschen. Aus der Perspektive der von Chefankläger Karim Khan geführten Anklagebehörde ist die Wahl jedoch nachvollziehbar. Während eine persönliche Verantwortlichkeit des Staatsoberhauptes für einzelne Taten „auf dem Schlachtfeld“ in der Praxis nur schwer zu beweisen ist und häufig komplexe und langwierige Strukturermittlungen erfordert, liegt eine (Mit-)Verantwortung für Handlungen der Mitbeschuldigten, eine Kommissarin für Kinderrechte im Büro des russischen Präsidenten, zumindest nahe. Darüber hinaus dürfte sich auch die Strafbarkeit des Handelns selbst einfacher feststellen lassen, als zum Beispiel bei Luftangriffen auf ukrainische Städte, die nach den Regelungen des humanitären Völkerrechts nicht per se verboten sind. Schließlich hatte der Chefankläger zu berücksichtigen, dass eine Strafverfolgung wegen des Verbrechens der Aggression, also des Führens eines Angriffskrieges unter Verstoß gegen die UN-Charta, mangels örtlicher Zuständigkeit nicht möglich ist.

Schnelles Handeln in Den Haag

Die durchaus schnelle Entscheidung für den Erlass und die Bekanntmachung des Haftbefehls dürfte auch strategische Gründe gehabt haben. Der ICC musste der Weltöffentlichkeit beweisen, dass er den Herausforderungen gewachsen und schlagkräftig ist, nachdem er in den vergangenen Monaten wiederholt unter Druck geraten war. Da der Gerichtshof zur Ahndung des Aggressionsverbrechens nicht zuständig ist, wurden vermehrt Forderungen nach der Schaffung eines UN-ad-hoc-Tribunals oder eines internationalisierten Sondertribunals laut. Eine solche Konkurrenz könnte der chronisch unterfinanzierte ICC kaum gebrauchen. Ein Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erscheint da dienlich. Eindrücklicher lässt sich kaum zu Schau stellen, dass sich das Gericht auch mit den Mächtigen der Welt anlegen kann und will; einen Machtkampf, den der ICC in der Vergangenheit eher vermieden hat.

Dieser Schachzug des Chefanklägers ist mehr als ein Haftbefehl für die Galerie. Als erfahrener Stratege und ehemaliger Verteidiger am ICC weiß der Chefankläger um die Komplexität internationaler Strafverfahren. Er kennt die Gefahren einer überambitionierten und voreiligen Anklageerhebung. Die Fehler, den die Anklage im Kenia-Verfahren gemacht hat, sollen sich nicht wiederholen. Zumindest die öffentlich bekannt gemachte Fokussierung des Verfahrens lässt erahnen, dass es sich um mehr handeln dürfte als reine Effekthascherei. Sollte Wladimir Putin jemals als Gefangener vor dem ICC landen, dürften ihm ein gut vorbereiteter Chefankläger gegenübersitzen.

Internationale Strafjustiz hat ihren Preis

Damit ein Strafverfahren gegen Putin oder andere Vertreterinnen und Vertreter der Russischen Föderation durchgeführt werden kann, bedarf es der Kooperation der (Mitglied-)Staaten. Der ICC verfügt über keine eigenen Polizei- und Militäreinheiten. Zur Festnahme ist das Gericht auf Staaten angewiesen, die willens und in der Lage sind, die gesuchten Personen dingfest zu machen.

Im Falle Putins dürfte dies eine schwierige Entscheidung sein, die nicht nur die rechtliche Zulässigkeit, sondern auch die weltpolitische Opportunität in den Blick nimmt. Aus Sicht des ICC dürften zumindest die rechtlichen Fragen weitgehend geklärt sein. So hatte die Berufungskammer in einer, wenn auch umstrittenen Entscheidung klargestellt, dass zumindest die Mitgliedstaaten des Römischen Statuts zu einer Festnahme auch dann verpflichtet seien, wenn es sich um ein Staatsoberhaupt eines Staates handelt, der das Statut nicht unterzeichnet hat und die Kooperation verweigert.

Bedeutender dürften die praktischen Hürden sein. Damit der ICC diese und viele weitere Aufgaben meistern kann, bedarf es einer ausreichenden Ausstattung mit Finanzmitteln. So ermittelt der ICC derzeit offiziell zu möglichen Straftaten in 16 Ländern. Während in den Anfangsjahren vor allem Afrika im Fokus des ICC stand, betreffen die derzeitigen Ermittlungen unter anderem auch Afghanistan, Palästina/Israel, Philippinen, Georgien, Venezuela und Myanmar. Die Bandbreite an Verfahren ist eine logistische Herausforderung, die ohne zureichende Unterstützung der Mitgliedstaaten zum Scheitern verurteilt ist. Rechtsstaatliche Verfahren erfordern eine ausreichende Ausstattung des Gerichts, der Anklage, der Verwaltung und der Verteidigung. Letztere sahen sich Ende 2022 angesichts der derzeitigen Arbeitsbedingungen sogar zu einem Streik veranlasst. Es lässt sich kaum leugnen: Die Internationale Strafjustiz gibt es nicht umsonst. Eine rechtsstaatliche Ahndung von Systemunrecht ist jedoch eine Investition wert. Die Bundesrepublik Deutschland sollte hierzu einen Beitrag leisten.

Von Dr. Mayeul Hiéramente, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Hamburg


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