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Humanitäre Hilfe in Syrien: Vereinte Nationen im „Aid Dilemma“

Die Vereinten Nationen haben für das Jahr 2016 mit drei Milliarden US Dollar einen Großteil der Hilfsgelder für Syrien verwaltet. Dies entspricht 42% der Mittel, die benötigt werden. Seit Ausbruch des Krieges in Syrien leisten die Vereinten Nationen über UNHCR, WFP und WHO Humanitäre Hilfe an die notleidende Zivilbevölkerung. Dabei bewegen sie sich ständig in einem Spannungsumfeld um die Frage, wie diese Hilfe möglichst effektiv erbracht werden soll. Denn ein Großteil der Gelder bzw. Hilfslieferungen kann nur mit Zustimmung des syrischen Regimes oder von ihm autorisierter Organisationen geliefert werden.

Beschädigtes Auto mit UN-Aufschrift
UN Photo/David Manyua

Finanzielle Situation der Hilfspläne (Stand August 2016)

Nach Angaben des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (engl. Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA), die den Financial Tracking Service, eine Datenbank zur Erfassung von Hilfsgeldern, herausgibt, werden knapp acht Milliarden US Dollar für humanitäre Bedarfe in Syrien benötigt. Mit 42% ist nicht einmal die Hälfte davon gegenwärtig gedeckt. Der Syria Humanitarian Response Plan 2016 führt geschätzte 13,5 Millionen Menschen in Syrien auf, einschließlich sechs Millionen Kinder, die auf humanitäre Unterstützung und Schutz angewiesen sind. 4,5 Millionen Menschen leben in schwer zugänglichen Gebieten, sie wurden in drei Resolutionen des VN Sicherheitsrats (2139, 2165, 2191) als besonders gefährdet eingestuft. 70% der Bevölkerung in Syrien haben keinen Zugang zu angemessenem Trinkwasser, 1/3 der Menschen können ihre grundlegendsten Nahrungsbedürfnisse nicht erfüllen. Hinzu kommen über 11 Millionen Menschen, die medizinische Unterstützung benötigen. Als Referenzrahmen für Hilfsleistungen der Geberstaaten dienen der Syria Humanitarian Response Plan 2016, der nur  zu 34% finanziert ist sowie der Syria Regional Refugee and Resilience Plan (3RP) 2016, der zu 49% gedeckt ist.
 

Steuerung und Umsetzung der Hilfe in Syrien

In Syrien wird ein Großteil der Hilfe, die hauptverantwortlich von UNOCHA koordiniert wird, gegenwärtig über das Regime in Damaskus geleitet. Nach internationalem Recht regelt die Regierung eines Landes den Zugang zu ihrem Gebiet. Sie darf allerdings nicht aus unsachlichen oder willkürlichen Gründen den Zugang von Hilfspersonal verweigern. Zudem sind nach Staatenpraxis (die Praxis von Völkerrechtssubjekten, nicht gleichzusetzen mit Völkergewohnheitsrecht), die jeweiligen Konfliktparteien für die Sicherheit von Hilfspersonal auf ihrem Gebiet zuständig.

Im Konflikt in Syrien, in dem eine Vielzahl von Akteuren agiert, fungiert das Regime unter Assad als Ansprechpartner für von ihm kontrollierte Gebiete. Da das syrische Regime durch seine Luftwaffe und wechselnde Frontverläufe aber außerdem auch Zugriff auf andere Landesteile hat, die von verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen kontrolliert werden, wird eine Erlaubnis, humanitäre Hilfsgüter zuzustellen, zunächst für das gesamte Land beim Regime eingeholt. Dies bedeutet, dass das Regime zu einem gewissen Grad Einfluss darauf nimmt, wer welche Hilfe wo bekommt. Ein Vorwand, den das Regime exzessiv ausnutzt, um zu verhindern, dass beispielsweise lebensnotwendige Medikamente in Gebiete der Oppositionsgruppen gelangen. Neben der Gewalt, der die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten täglich ausgesetzt ist, werden damit auch ihre Menschenrechte auf Gesundheit und Nahrung verletzt. Im Bericht des VN Generalsekretärs an den Sicherheitsrat zu Beginn des Jahres werden die Auswirkungen dieser Praxis deutlich. So hat das syrische Regime den Zugang zu sechs von 18 belagerten Orten blockiert und damit über 250.000 Menschen Hilfe verweigert.
 

Gestapelte Wasserflaschen
Hilfsmissionen, die Nahrung, Wasser und Medikamente für die notleidende Zivilbevölkerung bereit stellen, müssen vorher die bürokratischen Hindernisse des syrischen Regimes überwinden. (UN Photo/Mark Garten)

Interventionen und Gewinn des syrischen Regimes bei UN-Hilfsmissionen

Nach Recherchen des britischen Guardian wurde die Mehrheit der Hilfsgelder aus dem Jahr 2015 über regimekontrollierte Behörden in Damaskus geleitet. Dies betraf unter anderem Unterstützungsleistungen für die nationale Blutbank, die unter der Kontrolle des Verteidigungsministeriums steht. Eine komplett unparteiliche und neutrale Zustellung der lebensrettenden Blutkonserven durch das Verteidigungsministerium muss aber infrage gestellt werden. Auch profitierten staatsbetriebene Kraftstoffunternehmen von dem großen Bedarf an Treibstoff für die Konvois der VN und sogar das Tourismus-Ministerium scheint sich durch Anteile am Four Seasons Hotel in Damaskus an den Hotelkosten von VN-Mitarbeitenden zu bereichern. Die Kosten von Unterbringung und Logistik sind zunächst aber normale Faktoren in einer Hilfsmission. Dass in diesem Fall syrische Staatsbetriebe davon profitieren, ist sicherlich nicht beabsichtigt, scheint aber in der Konsequenz der lokalen Versorgungsmöglichkeiten, der Sicherheitssituation und unter Berücksichtigung der Gefährdung der VN-Mitarbeitenden in weiten Teilen nicht zu vermeiden.

Schwerer wiegen die direkten Interventionen des syrischen Regimes, das zusätzlich Gesetze verabschiedet, welche die Arbeit der Vereinten Nationen und von Nichtregierungsorganisationen erheblich erschweren oder ganz ausbremsen sollen. Dazu zählen Importverbote türkischer Produkte oder das Bestehen darauf, dass alle Medikamente in Syrien beschafft werden müssen. Dies bedeutet erhebliche Preissteigerungen in der logistischen Abwicklung von Hilfslieferungen oder eine unzureichende Versorgung der betroffenen Bevölkerung, da bestimmte Güter innerhalb Syriens gar nicht erst beschafft werden können.

Gestapelte Getreidesäcke
Durch die Interventionen des Regimes können viele Menschen nicht mit lebensrettenden Hilfsgütern erreicht werden. Trotzdem sind die UNin ihrer Arbeit auf Assad angewiesen. (UN Photo/WFP/Phil Behan)

Gründe für die Auseinandersetzung mit dem Regime

Von Vorkommnissen dieser Art wurde regelmäßig in den Medien berichtet. Trotzdem kooperieren die Vereinten Nationen weiterhin mit den syrischen Behörden, um ihre Hilfslieferungen durchzuführen. Dafür gibt es gute Gründe. Zum einen kontrolliert das Regime wichtige Gebiete, die Abstimmung mit Damaskus führt deshalb theoretisch dazu, dass große Teile der notleidenden Bevölkerung erreicht werden. Zum anderen sind die Vereinten Nationen auf Assad angewiesen damit sie weiter Zugang nach Syrien erhalten. Wird ihnen der Zugang komplett verweigert, erhält niemand ihre Hilfe. Nicht zuletzt kann so die Sicherheit für humanitäres Personal und ihre Hilfe am besten gewährleistet werden. Obwohl humanitäres Personal unter internationalem Recht geschützt ist, hat der Konflikt in Syrien, in dem wiederholt zivile Objekte wie Krankenhäuser und Schulen sowie Zivilbevölkerung Opfer von Angriffen werden, gezeigt, dass dies keine unbegründete Sorge ist. 

Bürokratische und politische Gratwanderung und ihre Folgen

Die Vereinten Nationen beschreiten mit dieser Strategie eine Gratwanderung. Die Akzeptanz Humanitärer Hilfe beruht im Allgemeinen auf der Einhaltung der humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Neutralität und Menschlichkeit. Durch die Wahrnehmung, dass Hilfe vor allem in Gebieten des Regimes ankommt, könnte Misstrauen gegen die VN wachsen und das Vertrauen in ihre Hilfe schwinden. Hinzu kommt, dass die VN mit der Resolution 2165 des VN Sicherheitsrats eigentlich ermächtigt wurden, Hilfslieferungen über Syriens Außengrenzen z. B. zur Türkei und Jordanien, auch ohne die Zustimmung des Regimes zu liefern, womit zumindest auf dem Papier der Weg für Humanitäre Hilfe in entlegene Gebiete Syriens geebnet wurde. In der Praxis liegen der komplizierten Umsetzung der Resolution unter anderem Gebietsgewinne des „Islamischen Staates“ zugrunde, die Versorgungswege durch den Irak abgeschnitten und das Arbeiten humanitären Personals erneut erschwert haben. Zudem will das syrische Regime solche nicht durch ihn autorisierten Grenzübertritte als Aggression verstanden wissen, was die politische Atmosphäre rund um Lösungsversuche des VN Sondergesandten Staffan de Mistura zusätzlich belastet. Dieses Spannungsfeld zwischen dem Wunsch, möglichst große Teile der notleidenden Bevölkerung zu erreichen und gleichzeitig in Kontakt mit dem syrischen Regime zu bleiben, führt neben der komplexen Sicherheitslage dazu, dass nicht die angestrebte Zahl der Hilfslieferungen durchgeführt werden kann.

Nahrungsmittelsäcke werden aus Flugzeug abgeworfen
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz nutzt in Ausnahmefällen Abwürfe von Hilfsgütern mit Fallschirmen, um Teile der syrischen Bevölkerung zu erreichen. (UN Photo/Fred Noy)

Humanitäre Hilfe unter Spannung

In einem Bericht aus dem Jahr 2011 hat OCHA bereits auf zunehmende Trends von Seiten betroffener Regierungen verwiesen, die Abwicklung Humanitärer Hilfe erheblich zu erschweren. Das sogenannte Aid Dilemma resultiert demnach unter anderem daraus, dass Staaten den Kontakt zu solchen Einheiten untersagen, die sie als „Terroristen“ bezeichnen. Ein Vorgang, der auch im Syrienkrieg zu beobachten ist. Humanitäre Bedürfnisse einer Gruppe werden damit politischen Machtkalkülen unterworfen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat zeitweise und in Ausnahmefällen Abwürfe von Hilfsgütern mit Fallschirmen genutzt, um wie in diesem Fall, Teile der syrischen Bevölkerung zu erreichen. Diese Einsätze sind nicht ohne Risiko und auch sie stehen in einem Spannungsfeld zu dem leitenden „Do-No-Harm“ Grundsatz der Humanitären Hilfe, da beispielsweise Menschen bei den Abwürfen verletzt werden können oder Hilfsgüter nicht gerecht verteilt werden. Innerhalb geltenden internationalen Rechts, der Einhaltung von Menschenrechten und den pragmatischen Erfordernissen von Hilfslieferungen scheint es schwierig zu sein, allen gerecht zu werden und trotzdem ein Optimum an Hilfsleistungen zu garantieren. Bei allem Pragmatismus muss es trotzdem Grenzen für die Kooperation mit Akteuren geben, die Menschenrechtsverbrechen verüben. Die Vereinten Nationen verweisen dabei auf die Liste der VN-Sanktionen für Syrien nach denen sie sich richten.

Ein Ausweg aus dem Aid-Dilemma könnte sein, bewusst humanitäre Prinzipien zu kompromittieren. Die Folgen für das globale Hilfssystem, den Anspruch an die Erfüllung der humanitären Prinzipien beiseite zu legen, wären allerdings enorm und mit lebensbedrohlichen Konsequenzen für notleidende Menschen weltweit verbunden. Eine Kontrolle des Einsatzes finanzieller Mittel ist in jedem Fall zu begrüßen. Leitfragen bei ihrer Bewertung sollten sich allerdings danach richten, was die konkreten Alternativen sind, um möglichst effektive und effiziente Humanitäre Hilfe zu gewährleisten. In einem Krieg, in dem sich nicht alle Konfliktparteien gleichermaßen an humanitären Maßstäben messen lassen wollen, ist dies umso schwieriger.

Claudia Jach


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