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In Bergkarabach werden Lebensmittel und Medizin knapp

Ein seit Jahrzehnten schwelender, von der Welt vergessener Konflikt: Die Kämpfe um die Region Bergkarabach sind wieder aufgeflammt, die Menschen in der Region leiden. UN-Generalsekretär António Guterres hat bisher vergeblich ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen gefordert.

Ein Junge trägt eine Kiste mit der Aufschrift "UNHCR", eine Frau steht im Hintergrund und hebt zwei Säcke von einer Matratze auf.
Das UNHCR unterstützt die Bevölkerung in Bergkarabach mit Hilfslieferungen. (Foto: UNHCR/Elsevar Aghayev)

Im Schatten des russischen Krieges gegen die Ukraine und fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit sind Zehntausende Menschen in Bergkarabach fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Aserbaidschan, dem es im September 2020 gelungen ist, weite Teile seines ehemaligen Staatsgebiets und Bergkarabachs zurückzuerobern, blockiert immer wieder den Versorgungskorridor für die noch von Armenien kontrollierten Gebiete.

Insgesamt fünfmal sah sich der UN-Sicherheitsrat bisher veranlasst, sich mit dem Konflikt im Südkaukasus auseinanderzusetzen. Allein vier Resolutionen wurden 1993 verabschiedet, als die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan ihren Höhepunkt erreicht hatten. Beide Länder wurden aufgefordert, die Kämpfe einzustellen und internationalen Hilfsorganisationen den Zugang zu gewähren. Zudem solle Armenien die "okkupierten Gebiete" an Aserbaidschan zurückgeben, hieß es damals. Denn völkerrechtlich gesehen gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan. Den Friedensprozess sollte dem Sicherheitsrat zufolge die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) begleiten. Doch die bis zu 5000 Personen starke Friedenstruppe, vereinbart Ende 1994 auf dem OSZE-Gipfel in Budapest, kam nie zustande.

Seither gab es immer wieder Verhandlungsansätze und Lösungsvorschläge, die alle im Sande verliefen. Im September 2020 eskalierte der Konflikt erneut. Wie schon fast 30 Jahre zuvor forderten die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und UN-Generalsekretär Guterres ein Ende der Kämpfe, die Aufnahme von Verhandlungen und legten die Entsendung von OSZE-Beobachtern nahe. Dessen ungeachtet gehen die Auseinandersetzungen seither weiter.

Der lange Arm der Geschichte

Wie so viele Konflikte, hat auch der um Bergkarabach seine Wurzeln in der Geschichte. Über Jahrhunderte hinweg besiedelten Menschen mit armenischen, tatarisch-mongolischen, russischen, türkischen oder auch persischen Wurzeln die Region und lebten dort miteinander. Im 20. Jahrhundert wurde auch im Südkaukasus die nationale Identität, also die Frage nach der Herkunft, immer wichtiger.

Als Armenien und Aserbaidschan 1918 ihre Unabhängigkeit erklärten - zuvor hatte das Gebiet zum russischen Zarenreich gehört - begann der Streit, der bis in die Gegenwart andauert. Schon damals eskalierten die politischen Auseinandersetzungen darüber, wem die Region Bergkarabach gehört. Mit Unterstützung der zu dieser Zeit im Südkaukasus einflussreichen Briten setzte sich Aserbaidschan durch und erhielt die Verwaltungshoheit über Bergkarabach. Ein Abkommen zwischen der mehrheitlich armenischen Bevölkerung der Region und der aserbaidschanischen Regierung sollte dem Gebiet weitreichende Autonomie sichern.  Doch es kam immer wieder zu Aufständen der armenischen Bevölkerung, die blutig niedergeschlagen wurden. Trauriger Höhepunkt der Konflikte war das Pogrom von Schuscha (1920), bei dem bis zu 30 000 Menschen von aserbaidschanischen Truppen fast vollständig ausgelöscht wurden und das als kollektives Trauma in der Erinnerung der Armenier bis heute weiterlebt.

Trügerische Ruhe zu Sowjetzeiten

Zwischen 1921 und 1988, als Armenien und Aserbaidschan Sowjetrepubliken und damit Teile der UdSSR waren, sorgte Moskau dafür, dass es ruhig blieb im Südkaukasus. Die Konflikte schwelten weiter, zumal auch in sowjetischer Zeit Bergkarabach weiterhin zu Aserbaidschan gehörte, was die Armenier als Ungerechtigkeit empfanden. 1988 verabschiedete das Parlament der Autonomen Region Bergkarabach eine Resolution, um von der Aserbaidschanischen zur Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu wechseln. 1991, als sich die Sowjetunion auflöste, erklärte auch die Autonome Republik Bergkarabach ihre Unabhängigkeit. Es folgten blutige Zusammenstöße, größere Pogrome bis hin zu so genannten ethnischen Säuberungen mit Hunderten von Toten auf beiden Seiten. Ganz zu schweigen von Vergewaltigungen, Vertreibungen und Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Bis zu 30 000 Todesopfer und mehr als eine Million Flüchtlinge sind die Bilanz des anschließenden Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan, der bis 1994 dauerte. Kontakte zwischen Armeniern und Aserbaidschanern existieren seither so gut wie keine mehr, Feindbilder sind auf beiden Seiten felsenfest verankert.

De-facto-Staat Bergkarabach

Bergkarabach, das rund 140 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt, ist etwa doppelt so groß wie das Saarland. Völkerrechtlich noch nicht einmal von Armenien als Staat anerkannt, hat Bergkarabach nach 1994 staatliche Strukturen aufgebaut. In der Republik Arzach, wie sich das Gebiet seit 2017 offiziell nennt, wurden Verfassungsreferenden und Wahlen abgehalten, die Region besitzt ein eigenes Parlament, einen Präsidenten und eine Armee.

Nachdem Armenien mit Unterstützung Russlands 1994 deutlich gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen war, verstand sich die russische Regierung als Beschützer Bergkarabachs und seiner vorwiegend armenischen Bevölkerung. Moskau griff Jerewan mit Waffenlieferungen, der Stationierung russischer Truppen und der Aufnahme in das von Russland dominierte Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit) unter die Arme.

Doch das Kräfteverhältnis hat sich inzwischen verschoben. Die Einnahmen aus Öl- und Gasvorkommen erlaubten dem autoritär regierten Aserbaidschan, aufzurüsten und außenpolitisch selbstbewusster aufzutreten. Trotz seiner Parteinahme für Armenien lieferte Moskau zudem weiterhin Waffen nach Aserbaidschan. Dessen Präsident Ilham Aliyev nutzt den Konflikt mit Armenien, um sich als starker Mann zu präsentieren und innenpolitisch die Zügel immer fester anzuziehen. Politisch und wirtschaftlich unterstützt wird Aserbaidschan vom Nachbarn Türkei, der seinen Einfluss im Kaukasus auf Kosten Russlands ausdehnen will.

Einzige Verbindung von Aserbaidschan blockiert

Nach der erneuten Eskalation von 2020 beendete ein Waffenstillstandsabkommen unter Vermittlung des russischen Präsidenten Wladimir Putin die direkten Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Doch die gegenseitigen Provokationen gehen weiter. Nach Auskunft des Roten Kreuzes laufen zumindest die medizinischen Transporte zwischen Armenien und Bergkarabach wieder an. Aserbaidschan blockiert immer wieder die Durchfahrt am Grenzübergang zum sogenannten Latschin-Korridor, der inzwischen einzigen Verbindung von Armenien nach Bergkarabach, was Furcht vor einer humanitären Krise in der Enklave weckt. Mitte Juli sind in Brüssel zum inzwischen sechsten Mal Friedensgespräche zwischen Aserbaidschan und Armenien unter EU-Vermittlung ergebnislos beendet worden. Wenig Hoffnung also für die Menschen in der umkämpften Region.

Annette Weber


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