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Jemen: Der vergessene Krieg

Der Krieg im Jemen hat verheerende Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Seit seiner Gründung im Jahr 1990 ist Jemen ein zutiefst gespaltener und dysfunktionaler Staat. Die Besetzung der Hauptstadt Sanaa durch die schiitischen Huthi ist dementsprechend auch nicht Grund, sondern Symptom der chronischen Krise im ärmsten Land der arabischen Welt. Der UN-Sicherheitsrat vergleicht die humanitäre Lage in Folge der Angriffe der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition bereits mit der in Syrien.

Saudischer Luftschlag in Sanaa.

(Foto: Ibrahem Qasim/wikimedia/CC BY-SA 4.0/Destroyed house in the south of Sanaa 12-6-2015-3)

Hintergrund

Seit seiner Gründung im Jahr 1990 ist Jemen ein zutiefst gespaltener und dysfunktionaler Staat. Die Besetzung der Hauptstadt Sanaa im September 2014 durch die Huthi, einer schiitischen Gruppe aus dem Nordjemen, ist dementsprechend auch nicht Grund, sondern Symptom der chronischen Krise im ärmsten Land der arabischen Welt. Präsident Hadi, ein Sunnit, und sein Kabinett flohen im Dezember 2014 nach Saudi-Arabien. Bis März 2015 erzielten die Huthi strategisch wichtige Landgewinne im Südjemen. Daraufhin sah sich Saudi-Arabien am 26. März zu einem militärischen Eingreifen gezwungen, um den schiitischen Iran, den wichtigsten Unterstützer der Huthi, aus dem eigenen "Vorgarten" zurückzudrängen. Es entstand eine Militärkoalition, der bis auf Oman alle weiteren Mitgliedsstaaten des Golf-Kooperationsrats (Kuwait, Bahrain, Katar, Vereinigte Arabische Emirate) sowie Marokko, Sudan und Senegal angehören. Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA), Großbritannien und Frankreich, wichtige westliche Verbündete des Königreichs, leisten nachrichtendienstliche, materielle und militärische Unterstützung, darunter Bomben- und Munitionsverkäufe und Luftbetankung von Flugzeugen.

Vorwurf von Massenverbrechen

Der Krieg im Jemen hat verheerende Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Im Februar diesen Jahres gab der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen (UN), Stephen O`Brien, bekannt, dass die Hälfte der 6000 getöteten Personen im Jemen Zivilisten seien. Nach neuesten Angaben vom März sind bisher 3200 Zivilisten ums Leben gekommen.

Ein kürzlich veröffentlichter UN-Expertenbericht zeigt, dass diese desaströsen Zahlen eng mit gravierenden Verletzungen von humanitärem Völkerrecht verknüpft sind. So verwenden die Huthi Menschen als menschliche Schutzschilde, feuern willkürlich auf bewohnte Gebiete und verminen weite Landstriche. Doch im ungleichen Kampf der zur Verfügung stehenden Mittel sind es die Luftangriffe der internationalen Militärkoalition, welche die meisten zivilen Opfer verursachen. Nach Schätzungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte ist die Koalition für doppelt so viele zivile Opfer verantwortlich wie alle anderen Konfliktparteien zusammen, und dies fast ausschließlich durch Luftschläge.

Der Bericht wirft der Koalition "weitverbreitete und systematische Bombardierung" von zivilen Wohngegenden und Einrichtungen vor. So hatte die Koalition beispielsweise das gesamte Stadtgebiet von Sa`dah, Hochburg der Huthi, zum militärischen Ziel erklärt. "Weitverbreitete und systematische Attacken", so notiert der Bericht an anderer Stelle, erfüllen die juristischen Kriterien für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zudem haben die UN, Amnesty International und Human Rights Watch den Abwurf von Streubomben auf bewohnte Gebiete dokumentiert. Diese Kanisterbomben platzen in mittlerer Höhe in "bomblets" und erzeugen einen weiträumigen Bombenteppich. In einer kürzlich gezeigten Vice-Dokumentation fand das Kamerateam Überbleibsel von solchen in den USA produzierten Bomben. Die USA hatten 2013 einen Vertrag mit Saudi-Arabien über 640 Millionen US-Dollar für die Lieferung von Streubomben abgeschlossen. Das Königreich bestreitet allerdings vehement deren Einsatz.

Humanitäre Lage wie in Syrien

Der UN-Sicherheitsrat hat in einem Pressestatement Jemen als die numerisch "größte humanitäre Katastrophe der Welt" bezeichnet und Stephen O`Brien die Lage bereits im August 2015 mit "Syrien in seinem fünften Bürgerkriegsjahr" verglichen. Grund hierfür ist die überaus angespannte Versorgungssituation. Bereits vor dem Krieg importierte Jemen 90% seiner Grundnahrungsmittel und war nahezu vollständig auf Ölimporte angewiesen. Im Zuge des Krieges verhängte Saudi-Arabien eine See- und Luftblockade um zu verhindern, dass Güter mit militärischem Nutzen ihren Weg in die Reihen der Huthi finden. Die Blockade hat jedoch auch den kommerziellen Öl- und Nahrungsmittelimport eingeschränkt sowie die humanitäre Hilfe behindert, so der oben zitierte UN-Bericht. Mittlerweile sind 21 der 25 Millionen Menschen im Jemen, das sind 84% der Gesamtbevölkerung, auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das Welternährungsprogramm (WFP) warnt, dass Jemen an der Schwelle zur Hungersnot steht. Weite Teile des bevölkerungsreichen Westjemen werden von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung (IPC) auf Phase 4 von 5 eingestuft. Eins von drei Kindern ist akut unterernährt und mehr als 600 Gesundheitseinrichtungen sind inoperabel. Als erste positive Maßnahme seit Monaten hat vor kurzem der UN-Verifikations- und -Inspektionsmechanismus (UNVIM) seine Arbeit aufgenommen. Dieser soll die Kontrolle von kommerziellen Güterimporten beschleunigen.

Schweigen westlicher Verbündeter

Es zeigt sich, dass Saudi-Arabien großen diplomatischen Einfluss in den UN genießt, nicht zuletzt, da die drei westlichen, ständigen Sicherheitsrat-Mitglieder Verbündete des Königreiches sind.

In zumindest einem konkreten Fall hat dies dazu geführt, dass Verantwortungs- und Rechenschaftsbestrebungen unterminiert wurden. Im vergangenen September rief Zeid Ra'ad Al Hussein, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, zur Gründung einer unabhängigen Untersuchungskommission im UN-Menschenrechtsrat auf, um die Vorwürfe von Kriegsverbrechen im Jemen zu untersuchen.[1] Auf einen niederländischen Resolutionsentwurf reagierten Saudi-Arabien und andere arabische Staaten daraufhin mit einem Alternativtext. Dieser rief zur Unterstützung der existierenden nationalen Untersuchungskommission, gegründet von der jemenitischen Exilregierung, auf. Die USA bezogen erst nach Tagen Position. Botschafter Keith Harper sagte damals, dass sein Land den niederländischen Vorschlag unterstütze, doch gleichzeitig überzeugt sei, dass der Rat am kraftvollsten agiere, wenn er mit vereinter Stimme spreche. Diese abwartende Haltung und der Ruf nach Konsensus entzogen der niederländischen Resolution de-facto den Boden; Saudi-Arabien setzte sich durch.

Das Schweigen westlicher Staaten ist auch im Sicherheitsrat spürbar. Der Krieg im Jemen fristet auf seiner Agenda ein Schattendasein. Während Großbritannien bei humanitären Fragen im Jemen federführend ist, war es zuletzt die russische Föderation, welche aus politischem Kalkül die humanitäre Lage im Jemen zur Diskussion stellte. Während der Sicherheitsrat im Januar und Februar 2016 wiederholt die katastrophale humanitäre Lage von belagerten Städten in Syrien debattierte, warf Russland dem Westen Doppelzüngigkeit bei humanitären Themen vor. Wenn der Rat ein ehrliches Interesse an der humanitären Lage im Nahen Osten habe, dann müsse er sich auch mit der Situation im Jemen auseinandersetzen. Es bleibt unklar zu welchem Grad westliche Partner bilateralen Druck auf das Königreich ausüben, glücklich über den desaströsen Krieg ist definitiv keiner von ihnen. Doch im Kontext der UN ist erkennbar, dass die westlichen Staaten davor zurückscheuen, dass Thema aktiv einzubringen. Dabei sind eine stärkere pro-aktive Haltung und politischer Wille für Grundüberzeugungen der UN, aber auch der westlichen Wertegemeinschaft einzutreten, entscheidend, um Vorwürfen der Scheinheiligkeit entgegenzuwirken, ein größeres öffentliches Bewusstsein und Verantwortlichkeit für die desaströse Lage im Jemen zu schaffen. Sollte der Sicherheitsrat die humanitäre Lage verstärkt debattieren und eine Resolution hierzu verabschieden, könnte dies nicht nur die menschlichen Kosten des Krieges reduzieren, sondern sich auch positiv auf den öffentlichen Diskurs auswirken und dazu führen, dass die Thematik von westlichen Medien verstärkt aufgegriffen wird. Eine Untersuchungskommission im Menschenrechtsrat hätte neben einer Stärkung des Internationalen Rechts auch dazu geführt, dass zumindest die staatlichen Konfliktakteure ihre Taktik und ihr Vorgehen ändern müssen. Statt Huthi um jeden Preis zurückdrängen, hätte der Schutz von Zivilisten eine prominentere Rolle eingenommen.

UN-geführte Friedensverhandlungen bisher ergebnislos

Sicherheitsrat debattiert Situation in Jemen (© UN Photo / Joey Felipe)
Sicherheitsrat debattiert Situation in Jemen (UN Photo/Joey Felipe)

Die Antwortfähigkeit der VN war bislang auch bei der Suche nach einer politischen Lösung des Konfliktes eingeschränkt. Bisherige Grundlage für einen Friedensprozess ist Resolution 2216 (April 2015) des VN-Sicherheitsrates. Der Text ist ein diplomatischer Sieg für Saudi-Arabien und den Golf-Kooperationsrat. Er zeigt, dass westliche Sicherheitsratsmitglieder das strategische Interesse, die Huthi als Stellvertreter Irans zurückzudrängen, teilen und darauf bedacht sind, die angespannten Beziehungen zum Königreich nicht weiter zu strapazieren. So bestätigt der Text die Legitimität der jemenitischen Exilregierung, verhängt ein Waffenembargo gegen die Huthi und betont deren besondere Verantwortung zur Deeskalation beizutragen, indem die Gruppe dazu aufgefordert wird, sich aus allen besetzten Gebieten zurückzuziehen und ihre Waffen abzugeben. Solche "kick-off"-Forderungen für einen politischen Prozess tragen wenig Früchte, wenn die Zielgruppe die stärkste militärische Kraft auf jemenitischem Boden ist. Es ist deswegen nicht überraschend, dass bisher keine einzige Feuerpause eingehalten wurde und sämtliche Friedensgespräche scheiterten.

Neuer Anlauf ein Jahr nach Kriegsausbruch?

Doch in den letzten Wochen scheint überraschend Bewegung in die festgefahrenen politischen Konsultationen gekommen zu sein. Ohne erkennbare Mitwirkung der VN reiste eine Delegation der Huthi am 8. März 2016 erstmals für direkte und geheime Verhandlungen nach Saudi-Arabien, es wurden eine Feuerpause an der Grenze und ein Gefangenenaustausch vereinbart. Diese Entwicklung ist positiv zu bewerten. Bislang fanden Gespräche exklusiv zwischen Rebellen und Regierung statt. Vor wenigen Tagen dann gab Saudi-Arabien bekannt, seine Bodenpräsenz im Jemen zu verringern, und am 23. März wurde eine neuerliche Waffenpause für den 10. April und Friedensverhandlungen für den 18. April bekanntgegeben. Zugleich scheint es, dass beide Konfliktparteien die strategische Lage neu bewerten. Schienen beide Gruppierungen bislang davon überzeugt zu sein, ihre Verhandlungsposition durch militärische Geländegewinne verbessern zu können, so scheint nach Monaten ohne nennenswerte Erfolge ein politischer Ausweg für beide Konfliktparteien an Attraktivität zu gewinnen. Saudi-Arabiens Minister für Information gab kürzlich zu, dass sein Land ursprünglich gehofft hatte, die Militärkampagne schnell beenden zu können, doch sei mittlerweile kein Endspiel in Sicht. Der VN Sondergesandte Ismail Ould Cheikh Ahmed nannte die geplanten Verhandlungen die letzte Chance für Frieden in Jemen. Es ist zu hoffen, dass die Konfliktparteien diese nutzen.

[1] Der vielzitierte UN-Report in diesem Artikel stammt von einem Expertengremium, welches die Arbeit des Jemen-Sanktionskommittees unterstützt. In dieser Funktion untersucht das Gremium auch Verletzungen von humanitärem Völkerrecht und Behinderungen humanitärer Hilfe um Individuen für die Sanktionsliste zu identifizieren.

 

Simon Leuschner


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