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Kein Musterschüler

Zwölf Jahre nach der Ratifikation des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen gilt in Deutschland Verschwindenlassen immer noch nicht als eigene Straftat. In Genf musste sich die deutsche Delegation des Justizministeriums jetzt kritischen Fragen stellen.

Die Vorsitzende des Auschusses spricht auf einer Pressekonferenz in ein Mikrofon.
Suela Janina, Berichterstatterin im CED, bei einer Pressekonferenz. (UN Photo/Loey Felipe)

Die Arbeitssprachen im Ausschuss gegen das Verschwindenlassen (Committee on Enforced Disappearances – CED) sind Englisch, Spanisch und Französisch. Das deutsche Wort 'Musterschüler' ist dennoch den meisten Ausschussmitgliedern bekannt. Sie waren sich einig, dass Deutschland dieses Prädikat für seinen Auftritt am 22. März nicht verdient hat.

Die Bundesregierung musste in Genf Bericht erstatten, wie das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (Verschwundenen-Konvention) hierzulande umgesetzt wird. Vor allem musste sie erklären, warum es über zwölf Jahre nach Ratifikation immer noch keinen eigenen Straftatbestand gibt. Bereits 2014, bei der ersten Überprüfung, kritisierte der Ausschuss, dass Deutschland eine zentrale Verpflichtung aus dem Menschenrechtsvertrag bisher nicht erfüllt hatte. Wer nun erwartet hatte, dass die Bundesregierung nach so langer Zeit Vollzug oder wenigstens Fortschritte melden würde, wurde enttäuscht. Olivier de Frouville, einer der Berichterstatter im Ausschuss, machte aus seiner Ratlosigkeit keinen Hehl: Wie kann es sein, dass Deutschland sich einerseits an vorderster Front gegen die Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen engagiert und andererseits solchen Widerstand bei der Umsetzung dieses Übereinkommens in nationales Recht leistet?

Hartnäckiger Widerstand

Der Delegation unter Leitung des federführenden Justizministeriums (BMJ) gelang es nicht, diesen Widerspruch aufzulösen. Vielmehr wurde sogar in Frage gestellt, dass sich aus dem Übereinkommen überhaupt eine Verpflichtung für einen eigenen Straftatbestand ableiten lässt. Das löste bei den Ausschussmitgliedern unübersehbare Irritationen aus. Die Delegation brachte keine neuen Erkenntnisse vor und argumentierte juristisch äußerst konservativ, konnte manche Widersprüche nicht auflösen und musste teilweise irreführende Aussagen korrigieren.

Das BMJ vertritt schon seit der Ratifizierung die Auffassung, dass bestehende Tatbestände im Strafgesetzbuch (StGB), wie etwa Freiheitsberaubung, Geiselnahme oder erpresserischer Menschenraub ausreichen, um Fälle von Verschwindenlassen angemessen aufzuklären und zu ahnden.

Dies verkennt jedoch, dass es sich beim gewaltsamen Verschwindenlassen einer Person nicht um keine Aneinanderreihung oder Kombination verschiedener Straftaten handelt. Vielmehr ist Verschwindenlassen ein einziges, mehrdimensionales Verbrechen, das auch entsprechende Strafdrohungen und Verjährungsfristen verlangt.  Der Ausschuss ließ keinen Zweifel, dass die angeführten Einzelstraftatbestände und Rechtsnormen dem spezifischen Unrechtsgehalt des gewaltsamen Verschwindenlassens und den Vorgaben des Übereinkommens nicht gerecht würden.

Verschwindenlassen kein Fall für Deutschland?

Diskutiert wurde das beispielhaft am Fall des Vietnamesen Trinh Xuan Thanh, der 2017 aus Berlin ‚entführt‘ wurde und erst nach Tagen inhaftiert in Vietnam wieder auftauchte. Einer der Tatbeteiligten hatte im Rahmen einer vietnamesischen Geheimdienstoperation das Opfer im Auto nach Bratislava gefahren und wurde im Januar 2023 zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe unter anderem wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung und geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt. Obwohl hier höchstwahrscheinlich ein Fall von erzwungenem Verschwindenlassen vorlag, konnte der Täter dafür nicht angeklagt und auch nur als Teilnehmer statt als Täter verurteilt werden, weil ein solcher Straftatbestand im StGB eben nicht existiert.

Besonders widersprüchlich war die Argumentation der Bundesregierung in Bezug auf das sogenannte „Al-Khatib-Verfahren“ vor dem Koblenzer Oberlandesgericht, wo weltweit das erste Mal zu Staatsfolter in Syrien verhandelt wurde. Dieser Prozess hätte gezeigt, dass mit dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) Täter des Verschwindenlassens - im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit - in Deutschland wirksam bestraft werden könnten. Dieser Tatbestand wurde jedoch in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft nicht einmal erwähnt.

Grund dafür war, dass das gewaltsame Verschwindenlassen im VStGB enger definiert ist als in Artikel 2 der Verschwundenen-Konvention und Anforderungen enthält, die die Realitäten dieses Verbrechens zu Lasten der Opfer missachten. So müsste die Anklage etwa nachweisen, dass bei den Behörden nach dem Verbleib der verschwundenen Person gefragt worden ist. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie gefährlich das in Syrien und anderen Diktaturen sein kann. Der Ausschuss forderte Deutschland deshalb auf, das VStGB an die Vorgaben des Übereinkommens anzupassen.

Berichterstatterin im CED: Zwölf Jahre sind genug

Während es in Bezug auf das VStGB Bewegung gibt und das BMJ im Februar ein Eckpunktepapier zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts vorlegte, ist ein politischer Wille für die Umsetzung der Verschwundenen-Konvention im StGB leider noch nicht zu erkennen. Da half es der Delegation auch nicht, auf wiederholten Austausch mit der Zivilgesellschaft zu verweisen: Auf Nachfrage musste eingeräumt werden, dass ein solcher Austausch zuletzt 2014 stattgefunden hatte. Suela Janina, ebenfalls Berichterstatterin für Deutschland, konnte ihre Empörung darüber nicht verbergen, dass Deutschland es in zwölf Jahren seit der Ratifizierung nicht geschafft hat, mit einem eigenen Straftatbestand im StGB die Verpflichtungen aus Artikel 4 umfassend zu erfüllen. Warum gibt es immer noch Lücken im deutschen Strafrecht, die möglicherweise verhindern, dass Täter des Verschwindenlassens dafür bestraft werden?

Das in Artikel 24 des Übereinkommens garantierte Recht auf Wahrheit für die Opfer des Verschwindenlassens umfasst – und setzt voraus – die schwere, komplexe Menschenrechtsverletzung des Verschwindenlassens auch als solche zu benennen und nicht als Freiheitsberaubung oder Entführung 'kleinzureden'. Dies gilt für eine einzelne Tat ebenso wie die ausgedehnte und systematische Praxis, die zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird. Eine entsprechende Gesetzgebung als rein symbolischen Akt darzustellen, wird weder den Opfern noch der Vorbildfunktion, die Deutschland für sich in Anspruch nimmt, gerecht. Die vollständige Umsetzung der Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsverträgen ist mehr als nur von symbolischem Wert.

Silke Voß-Kyeck, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte


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