Lernen aus Corona
Am 30. April veröffentlichte die Internationale Energieagentur eine bemerkenswerte Analyse zu den Folgen der Coronakrise auf das weltweite Energiesystem und damit auch aufs Klima. Die IEA spricht vom „größten Schock seit mehr als sieben Jahrzehnten“ und prognostiziert für 2020 einen beispiellosen Rückgang beim CO2-Ausstoß. Weil Wirtschafts- und Alltagsleben nur auf Sparflamme laufen, ist der Bedarf an Energie so niedrig wie sonst nur an Sonn- und Feiertagen. Ausgehend vom globalen Energieverbrauch der letzten 100 Tage rechnet die Agentur für das gesamte Jahr mit einem Minus von acht Prozent bei den Emissionen, die durch das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas entstehen. Das entspricht 2,6 Milliarden Tonnen CO2. Und der Einbruch wird sogar noch größer ausfallen, wenn es nach den Lockerungen des Lockdowns in einigen Monaten zu einer weiteren Infektionswelle und neuerlichen Einschränkungen kommen sollte. Durch die Covid-19-Pandemie, so könnte man sagen, ist die Menschheit unfreiwillig zum radikalen Klimaschützer geworden.
Wie radikal der Einschnitt ist, den die Welt derzeit erlebt, zeigt der Vergleich mit der Finanzkrise von 2008. Die globale Rezession ließ die Emissionen damals um 1,4 Prozent sinken. Im Folgejahr, als sich die wirtschaftlichen Bedingungen verbessert hatten, stiegen sie mit über fünf Prozent stärker an als je zuvor. Der teuer erkaufte Klimaschutzeffekt war mehr als verpufft. Wie wird es diesmal sein? Werden die Wiederaufbaupläne der Länder so gestaltet sein, dass die Emissionen wieder in die Höhe schießen? Werden Klimaziele und Umweltstandards angesichts von Millionen Arbeitslosen, drohenden Pleiten und astronomischen Schuldenbergen zum Luxus, den man sich erst in Post-Corona-Zeiten wieder leisten kann? Oder gelingt es, bei der Bewältigung der Corona-Pandemie auch die Klimakrise im Auge zu behalten und das Ergrünen von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben?
Wirtschaftswachstum contra Klimaschutz
Noch stecken wir mitten in der Krise und es ist zu früh, eine seriöse Abschätzung zu wagen. Für beide Szenarien gibt es indes starke Indizien.
Vor Corona hat die Fridays-for-Future-Bewegung das Klimathema auf die Straße, in die öffentliche Aufmerksamkeit und auf die politische Agenda gebracht. Das ist derzeit nicht möglich, Demonstrationen können nur virtuell stattfinden. Das Thema gerät in den Hintergrund.
Wegen Corona wurde die Weltklimakonferenz COP 26, die im November in Glasgow stattfinden sollte, auf nächstes Jahr verschoben. Welche Folgen dies auf den ohnehin stockenden Prozess der internationalen Klimaverhandlungen haben wird, ist ungewiss.
US-Präsident Trump hat Ende März mit Verweis auf die Corona-Pandemie für die Öl-Industrie und andere CO2-intensive Unternehmen Umweltgesetze außer Kraft gesetzt. Unter anderem muss über Treibhausgas- und andere Emissionen nicht mehr berichtet werden, was auch Auswirkungen auf die internationale Klimadiplomatie haben könnte.
Auch in der EU fordern zahlreiche Unternehmen und Unternehmensverbände, dass Umweltauflagen und Klimaziele abgeschwächt oder ausgesetzt werden. Im Kern will die EU-Kommission zwar an ihrem Green Deal festhalten, verschob aber Mitte April Teile ihrer Pläne auf das kommende Jahr.
In Deutschland üben Wirtschafts- und Bauernverbände sowie der Wirtschaftsrat der CDU ebenfalls Druck aus und fordern, dass Klimaschutzbestimmungen aufgeweicht werden.
Ein wichtiger Faktor ist auch der Ölpreis, der durch den Nachfrage-Einbruch regelrecht kollabierte und zum ersten Mal sogar kurzfristig ins Minus drehte. Einige Fachleute fürchten, dass ein auf längere Sicht niedriger Rohölpreis dazu führen könnte, dass sich Investitionen in klimafreundliche Technologien nicht rentieren und folglich unterbleiben.
Klimakomponente beim Neustart der Wirtschaft
Auf der anderen Seite melden sich fast täglich weitere Unternehmen, Verbände und Organisationen zu Wort, die vor einem Rollback im Klimaschutz warnen und dazu aufrufen, Wirtschaftshilfen und Konjunkturpakete so zu schnüren, dass sie auch dem Klima nutzen. Zur immer länger werdenden Liste gehören nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ wie Umwelt- und Klimaschützer. Auch Konzerne wie Thyssenkrupp, Bayer und E.on sind dabei, außerdem mehr als die Hälfte der EU-Umweltminister sowie Wirtschaftsinstitute, Stiftungen und NGOs. Anfang Mai wandten sich mehr als 400 Großinvestoren, die über 30 Billionen Dollar verwalten, in einem Brief an die G20 und forderten ambitionierten Klimaschutz beim Neustart der Wirtschaft. Bereits im vergangenen Jahr hatten die Finanzkonzerne die Einführung eines CO2-Preises und das Aus für alle Kohlekraftwerke weltweit gefordert.
Auch die Internationale Energieagentur spricht sich für grüne Stimulusprogramme aus. „Wir haben eine große Chance“, sagt IEA-Chef Fatih Birol. Mit der richtigen Energie- und Klimapolitik sei es möglich, CO2-Reduktionen auf nachhaltige Weise zu erreichen, anstatt so wie jetzt durch „schmerzhafte Lockdowns“.
Beim Petersberger Klimadialog der Bundesregierung Ende April, der erstmals als Videokonferenz stattfand, rief UN-Generalsekretär António Guterres die Länder dazu auf, gerade jetzt mit dem Klimaschutz weiterzumachen und ihre Ziele für das Paris-Abkommen zu erhöhen. Alle 30 Staaten, die an dem informellen Treffen teilnahmen, sprachen sich für internationale Solidarität, höhere Klimaziele und widerstandsfähigere Volkswirtschaften aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannte sich zu einem höheren EU-Klimaziel für 2030 und kündigte an, Deutschland werde jährlich vier Milliarden Euro an Klimahilfen für ärmere Länder bereitstellen. „Wir dürfen nicht am Klimaschutz sparen“, sagte sie.
„Wir dürfen nicht am Klimaschutz sparen.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Welche Seite sich in den kommenden Wochen und Monaten in welchem Umfang durchsetzen wird, lässt sich noch nicht sagen. Klar ist aber, dass die Befürworter klimafreundlicher Konjunkturprogramme nun ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite haben, das vor Corona noch kaum eine Rolle spielte. Schon aus purem Eigeninteresse tut die Menschheit gut daran, die Krisenfestigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken. Genau das ist das Ziel grüner Wiederaufbaupläne, die auch die Klimakrise im Blick haben. Um künftigen Schocks so weit es geht vorzubeugen. Seit Ausbruch der Coronakrise ist kein Begriff häufiger zu hören wie „Resilienz“. Die Covid-19-Pandemie hat klargemacht, wie verwundbar und verletzlich wir alle sind. Diese Erfahrung lässt sich nicht so schnell wieder vergessen.