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Menschenrechte im digitalen Zeitalter – Chinas Weg in die totale Überwachung?

Chinas atemberaubender wirtschaftlicher Erfolg hat keine demokratische Öffnung zur Folge. 2020 will das kommunistische Regime das sogenannte Sozialkreditsystem einführen. Die Menschenrechte drohen dadurch dramatisch beschnitten zu werden.

Das öffentliche Leben in China wird von der Staatsführung umfassend überwacht
Das öffentliche Leben in China wird von der Staatsführung umfassend überwacht (Foto: Zach Stern / Beijing Obscura / CC BY-NC-ND 2.0)

Die Bedeutung der Volksrepublik China als Wirtschaftsmacht wächst – seit 2014 ist das Land nach Kaufkraft die größte Volkswirtschaft der Welt. Doch Die Einführung liberaler marktwirtschaftlicher Elemente geht nicht mit einer demokratischen Öffnung Chinas einher. Im Gegenteil: Massive technologische Überwachungssysteme zielen auf eine flächendeckende Kontrolle und Gleichschaltung der Bevölkerung ab. Derzeit verfolgen rund 180 Millionen Kameras das öffentliche Leben, im Jahr 2020 sollen es bereits 600 Millionen sein. Ihre offizielle Bezeichnung lautet „Xue Liang“, was übersetzt so viel wie „Adlerauge“ heißt. 2020 will der Staat außerdem sein Sozialkreditsystem offiziell einführen, das bereits in einigen Provinzen im Probebetrieb läuft. Es ist darauf ausgelegt, das Verhalten der chinesischen Bürgerinnen und Bürger in allen Lebensbereichen zu erfassen und zu bewerten: Einkaufsgewohnheiten, Zahlungsmoral, soziales Verhalten, Strafregister und Parteitreue. Das chinesische Big Data Projekt ist in Größe und Ausmaß beispiellos: Kein anderes Land verfolgt die gesellschaftliche Kontrolle im digitalen Zeitalter ähnlich konsequent wie die Volksrepublik.

„George Orwell ist lächerlich gegen das, was in China passiert“

Die Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der Grünen Bundestagsfraktion, Margarete Bause, sieht in dieser Entwicklung eine deutliche Gefahr für die Universalität der Menschenrechte: „Massenhafte Datenerfassung, allgegenwärtige Überwachung und Zensur im Netz sowie in den sozialen Medien sind die Mittel eines Systems, das man wohl nur als technologischen Faschismus bezeichnen kann.“

In einem Interview mit der DGVN betonte Bause Anfang des Jahres die Bedeutung der Zivilgesellschaft beim Schutz der Menschenrechte. In China hat die Zivilgesellschaft jedoch kaum eine Chance, als regulierendes Element gegenüber der allgegenwärtigen Staatsmacht zu wirken. Das Sozialkreditsystem etabliert ein Belohnungs- und Bestrafungssystem anhand des Alltagsverhaltens. „Die Menschen bekommen für Verhalten, das der Kommunistischen Partei (KP) gefällt, positive Punkte und für gegenteiliges Verhalten negative Punkte. Bei Rot über die Ampel gehen, im Internet auf den falschen Seiten unterwegs sein… Eine bestimmte Anzahl von Negativpunkten führt zur Einschränkung der Mobilität oder Verbote bei der Schulauswahl.“ Bause sieht außerdem die Gefahr, dass die chinesische Überwachungstechnologie Modellcharakter für andere Länder mit totalitären Strukturen haben könnte: „Wir werden von China nicht nur wirtschaftlich herausgefordert, sondern auch in unseren Werten und unserem Gesellschaftssystem. Europa und andere Länder der Welt müssen hier ein klares Stoppschild aufstellen.“

Zögerliche Antwort der Staatengemeinschaft

Das von Bause geforderte „klare Stoppschild“ kommt bislang nicht aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Außenpolitische Experten des amerikanischen Thinktanks Council on Foreign Relations zeigen auf, dass China unter Präsident Xi Jinping das Menschenrechtsgremium dazu drängt, die nationale Souveränität von Staaten zu fördern, anstatt innenpolitischer Rechtsverletzungen nachzugehen. China ist 2019 eines von 47 Mitgliedern im Menschenrechtsrat und setzt laut Human Rights Watch „Druck und Warnungen“ gegenüber anderen Mitgliedsstaaten ein, um Kritik an seiner Menschenrechtsbilanz zu unterdrücken. Im März 2019 stand die Menschenrechtslage in China im Rahmen des „Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahrens“ auf der Tagesordnung des UN-Gremiums. Nach Recherchen von Human Rights Watch setzte China beteiligte Staaten unter Druck, um positive Bewertungen abzugeben und drohte mit Konsequenzen für diejenigen, die die Volksrepublik kritisierten. Chinas Vorgehen im Menschenrechtsrat könnte den Schutz der Menschenrechte durch die Staatengemeinschaft auf lange Sicht schwächen und ein System etablieren, das die Interessen von Staaten über die von Einzelpersonen stellt.

Technologischer Optimismus oder Dystopie?

Die Einführung des Sozialkreditsystems in China wird nicht von allen Seiten grundlegend kritisch bewertet. Das Nachrichtenmagazin Foreign Policy argumentiert, dass nicht jeder Aspekt des Lebens chinesischer Bürgerinnen und Bürger durch eine einzelne Punktzahl bestimmt werden würde. Das Hauptziel des Systems sei es vielmehr, den grassierenden Betrug und das Misstrauen in einer Gesellschaft zu bekämpfen, die in den letzten 40 Jahren von der kapitalistischen Öffnung Chinas stark erschüttert wurde.

Fakt bleibt jedoch, dass Chinas massives Überwachungssystem ohne wirksame Datenschutzregelungen eingesetzt wird und der Bevölkerung das Ausmaß, in dem persönliche Daten erfasst, gespeichert und verwendet werden, oft nicht bewusst ist. Chinas repressives Vorgehen im UN-Menschenrechtsrat ist ein weiteres Alarmsignal. Doch die Menschen­rechte haben universelle Gültigkeit – auch China hat formell die wichtigsten Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen ratifiziert. Daran ist die Volksrepublik zu erinnern, zum Beispiel von Deutschland, jüngst in den UN-Menschenrechtsrat gewählt. Gelegenheit dazu hat die Bundesrepublik noch bis Ende das Jahres: Dann endet Chinas Mitgliedschaft.

Katja Philipps

Heft 5/2019 der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN befasst sich schwerpunktmäßig mit der Digitalisierung.

 


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