Neue Heimat in Gefahr
Dieudonne Birali ist zuhause im „Nirgendwo“. Wenn er morgens seine mit Kunststoffplanen überzogene Holzhütte verlässt, sieht er nicht nur ein Flüchtlingscamp, sondern seine zweite Heimat. Ein Lager mit dem Namen Kakuma. Doch Kakuma ist, seitdem es im Jahr 1992 eröffnet wurde, für Zehntausende Geflüchtete mehr als nur ein Zufluchtsort. „Wenn man so lange hier lebt, fühlt sich das nach Heimat an“, sagt Birali.
In Kakuma, einem der größten Flüchtlingslager der Welt im Norden Kenias, leben 220.000 Menschen wie Birali. Geflüchtete, vor allem aus dem Sudan oder Äthiopien. Eine Minderheit stammt wie Birali aus dem Kongo. Im Jahr 2013 ist er mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg geflüchtet. Vor der Gewalt, den Milizen, den vielen Plünderungen. Es fällt ihm immer noch schwer darüber zu sprechen. Tut er es doch, blickt er auf den Boden, atmet tief durch. Erst wenn er von seinem neuen Leben in Sicherheit spricht, entspannen sich seine Gesichtszüge, ein Grinsen ist zu sehen.
Kakuma, abgeschottet von der Welt
Nicht zuletzt die Corona-Pandemie habe ihm gezeigt, wie sicher er sich in Kakuma fühlen kann. „Während die ganze Welt stillstand, haben wir Glück gehabt“, sagt Birali. Nur wenige Covid–Infektionen habe es gegeben, weil das Camp schnell und konsequent von der Außenwelt abgeschottet wurde. Das muss es auch, denn für die vielen Geflüchteten steht nur eine kleine Krankenstation bereit, Beatmungsgeräte gibt es so gut wie keine. Auch deshalb dürfen selbst geimpfte Journalistinnen und Journalisten bis heute das Camp nicht betreten und mit Birali nur per Videochat sprechen. Doch Birali zeigt Fotos von seinem Leben, Klassenzimmer mit alten Schreibmaschinen, UN-Angestellte, die Lebensmittel verteilen oder junge Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen.
Orte, an denen er den Aufstieg geschafft hat. In Kakuma konnte er einen Abschluss machen und letztendlich auch einen Job als Streetworker bei der Hilfsorganisation Handicap International finden. Doch all das ist nun in Gefahr. Die kenianische Regierung hat angekündigt, Kakuma und auch das zweite große Flüchtlingslager Dadaab, im Osten des Landes, schließen zu wollen. Einerseits, weil es in der kenianischen Bevölkerung den Wunsch gäbe, Geflüchtete wieder in ihre Herkunftsländer zu bringen. Andererseits behauptet die Regierung, dass die islamistische Al-Schabaab-Miliz in den Camps ihre Kämpfer rekrutieren würde. Immer wieder liest man das in den Medien, hört es auf den Straßen von Mombasa bis Nairobi. Birali hält das für absurd, kennt kaum einen solcher Fälle und fragt sich: „Wenn das Camp wirklich schließt, was soll dann aus uns und unserer Zukunft werden?“
Nairobi, knapp 800 Kilometer von Kakuma entfernt. Die Koreanerin Eujin Byun sitzt in einem Café unweit des Regierungsviertels der Stadt. Eine lange Straße mit den Botschaftsgebäuden von Ländern wie den USA, Dänemark, Kolumbien und Kamerun. Auch die Vereinten Nationen haben dort einen großen Campus mit Häusern von UNICEF bis UNESCO und dem Büro von Byun, die beim UNHCR, dem Flüchtlingskommissariat, arbeitet. Seit fast zwei Jahren ist sie UNHCR-Sprecherin in Kenia, davor arbeitete sie im Sudan und im Libanon.
Niemand soll abgeschoben werden
„Unsere Aufgabe besteht darin, Geflüchteten akut zu helfen, ihnen aber auch eine Perspektive zu bieten“, sagt Byun. Auch deshalb sei es unverantwortlich Menschen in ihre Herkunftsländer abzuschieben. „Diese Länder sind nicht stabil, auch wenn die Kriege im Moment vorbei sind“; sagt Byun. Und niemand könne bei diesen Staaten garantieren, dass der nächste Konflikt oder gar Krieg nicht schon bald ausbräche, sagt Byun. Die Rückkehr in diese Länder müsse deshalb immer freiwillig sein, betont sie und erzählt von einer Familie, die schon viermal deportiert wurde. „Das kann doch keine Alternative sein“, sagt Byun.
Stattdessen ginge es nun darum, einen Plan für die Zukunft des Camps zu entwickeln. „Wir werden niemanden abschieben, aber gleichzeitig ist klar, dass ein Camp nur zum Übergang gedacht ist“, sagt Byun. Deshalb arbeite das UNHCR nun mit der Regierung an einer langfristigen Strategie. Eine, die humane Lösungen finden soll, freiwillige Rückkehr ermöglicht und versucht, möglichst viele Menschen zu integrieren. In einem gemeinsamen Statement haben das auch der kenianische Präsident und das Flüchtlingskommissariat kürzlich bekräftigt. Byun ist optimistisch, dass es einen Weg geben kann.
Kein Camp, eigentlich eine Stadt
David Ochieng hofft darauf. Er ist Sozialarbeiter im Kakuma-Camp. Als die Nachricht der möglichen Schließung die Anwohnerinnen und Anwohner erreichte, sei die schlechte Stimmung spürbar gewesen. „Natürlich haben jetzt viele Angst“, sagt Ochieng. Zwar habe die Regierung in den vergangenen Jahren immer wieder behauptet das Camp schließen zu wollen und es dann doch nicht getan, doch jetzt würde sie entschlossener denn je wirken. „Das würde viele Fortschritte bedrohen, die wir erreicht haben“, sagt Ochieng. Täglich arbeitet er mit Menschen zusammen, die Handicaps haben. Junge Menschen mit Behinderungen, die vor Mobbing oder Gewalt geschützt werden müssen. Ausgegrenzte, die Platz in ihren Rehabilitationszentren finden. Sie bauen Prothesen und Orthesen, unterstützen die betroffenen Familien und geben den Erkrankten auch die Möglichkeit, für einen Job ausgebildet zu werden.
„Was soll mit all den Menschen geschehen, wenn sie ausgewiesen werden?“, fragt Ochieng. Viele davon seien auch nie im Land ihrer Eltern gewesen, sondern im Camp geboren. Mehr als 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Kakuma seien minderjährig. Und nicht nur für sie würde die Schließung existenzbedrohend sein. Kakuma ist kein Camp wie andere Flüchtlingslager, mehr eine Stadt, in der es auch Schulen, Friseurläden oder Moscheen gibt.
Aufenthaltserlaubnisse als Ausweg?
Laut einer Studie des Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben sich dort zwölf Prozent der Geflüchteten selbstständig gemacht. Die Entwicklungsbank International Finance Corporation veröffentlichte 2018 eine Studie, die von 2.100 Geschäften innerhalb des Camps spricht. Viele der Selbstständigen können von ihrer Arbeit in Kakuma leben, dürften außerhalb aber nicht arbeiten. Denn ohne Aufenthaltsstatus dürfen die Geflüchteten das Camp nicht ohne Erlaubnis verlassen und auch kein Land oder ein Geschäft erwerben. Abends, wenn die Sonne untergeht, wird das Lager geschlossen.
Doch Dieudonne Birali, der Geflüchtete aus dem Kongo, und der Sozialarbeiter David Ochieng haben Hoffnung, dass sich daran etwas ändert. Kürzlich kündigte die Regierung an, künftig Aufenthaltserlaubnisse an Menschen aus ostafrikanischen Staaten verteilen zu wollen. Dann könnten sich viele der Geflüchteten einen Job außerhalb des Camps suchen, vielleicht sogar in andere Städte ziehen und sich integrieren. Ein realistischer Ausweg aus Kakuma wäre geschaffen. Oder aus dem „Nirgendwo“ könnte endlich das werden, was es für viele gefühlt schon ist: Eine Stadt im Norden Kenias.
David Gutensohn
Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Recherchestipendiums der DGVN zum Thema „Herausforderung Mixed Migration“, finanziert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).