Neues Gesicht und alte Probleme: Karim Khan wird Chefankläger des ICC
Am 16. Juni 2021 wird Karim Khan als dritter Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, kurz ICC, die Nachfolge von Fatou Bensouda antreten. Die Juristin aus Gambia beendet nach neun Jahren ihre Amtszeit und überlässt das Feld dem Briten, der seit 2018 im Auftrag der Vereinten Nationen als Leiter von UNITAD die Untersuchung von Kriegsverbrechen durch die Terrormiliz Islamischer Staat im Irak anführt.
Langwieriger Wahlprozess
Karim Khan geht als Sieger aus einer langwierigen Wahl hervor: Zum ersten Mal in der Geschichte des Gerichtshofes konnten sich die 123 Vertragsstaaten nicht direkt auf einen neuen Chefankläger, beziehungsweise eine neue Chefanklägerin einigen. Und das, obwohl eigens vorab ein Auswahlkomitee, bestehend aus fünf Botschaftern aus den Regionen Westeuropa, Osteuropa, Afrika, Asien/Pazifik und Lateinamerika/Karibik, gegründet worden war, um eine erste Vorauswahl zu treffen. Doch die vier vom Komitee ausgewählten Kandidatinnen und Kandidaten überzeugten die Vertragsstaaten nicht. So wurde die Auswahl erneut auf neun Personen aufgestockt und Karim Khan setzte sich letztendlich im zweiten Wahlgang mit 72 Stimmen gegen den Iren Fergal Gaynor durch.
Ein Menschenrechtsanwalt mit politischer Sensibilität
Khan gilt als brillanter, scharfsinniger und entschlossener Menschenrechtsanwalt mit vielseitiger Erfahrung in der Vertretung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen, sowie im internationalen Strafrecht. In der Vergangenheit war er sowohl als Berater der Anklage bei den UNO-Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda tätig als auch als Verteidiger vor dem ICC, wo er unter anderem den Sohn von Muammar al-Gaddafi, Saif al-Islam Gaddafi, und Kenias Vizepräsident, William Ruto, vertrat. Khan wird als charismatisch und redegewandt beschrieben und soll neben seinen juristischen Fähigkeiten auch eine besondere Sensibilität für die politische, kulturelle und gesellschaftliche Dimension seiner Fälle mitbringen – Fähigkeiten, die in Anbetracht der Herausforderungen, die auf ihn warten, besonders wichtig erscheinen.
Politisch brisant: Ermittlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten eröffnet
Zu diesen Herausforderungen gehören auch anstehende Untersuchungen zu möglichen Kriegsverbrechen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Im Februar diesen Jahres hatte die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofes entschieden, dass sich die Gerichtsbarkeit des ICC auch auf die seit 1967 von Israel besetzten Gebiete - das Westjordanland, Ost-Jerusalem und den Gazastreifen – erstreckt. Auf diesen Gebieten soll nun zu etwaigen internationalen Verbrechen ermittelt werden, die seit dem 13. Juni 2014 begangen wurden. Das Büro der Chefanklägerin kündigte unparteiische, objektive Ermittlungen an, die sich sowohl gegen israelische militärische und zivile Entscheidungsträger als auch gegen palästinensische Vertreter der Hamas richten können. Da dies die Möglichkeit beinhaltet, gegen Israelische Offiziere zu ermitteln, löste die Entscheidung des Gerichts sowohl in Israel als auch in den USA Empörung aus. Auch Staaten wie Deutschland oder Australien, die die besetzten palästinensichen Gebiete nicht als Staat anerkennen, zweifeln die rechtliche Grundlage für eine Zuständigkeit des Gerichtes an. Da Palästina jedoch 2015 dem Römischen Statut des ICC beigetreten ist, ist letzterer folglich für Verbrechen zuständig, die auf deren Gebiet verübt wurden.
Keine Deeskalation in Sicht
Dass die anstehenden Ermittlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten ein politisches Pulverfass sind, scheint den Richterinnen und Richtern am ICC durchaus bewusst zu sein. In ihrer Entscheidung betonen sie nachdrücklich, dass die Bestätigung der Zuständigkeit des Gerichts keine Entscheidung über die Grenzstreitigkeiten mit Israel darstellt. Doch weder diese Klarstellung noch die Tatsache, dass die vorgesehenen Ermittlungen sich auf alle beteiligten Akteure des Konflikts, also auch auf Palästinenser und insbesondere auf die Hamas erstrecken, glätten die Wogen nicht. Die erneute Eskalation des Israel-Palästina-Konflikts im Mai 2021, in deren Rahmen UN-Menschenrechtsexperten das Gericht in Den Haag aufforderten, Anzeichen für Kriegsverbrechen auf beiden Seiten zu prüfen, unterstreicht einmal mehr die Dringlichkeit nach unabhängiger Aufklärung. Die Unfähigkeit des UN-Sicherheitsrates, sich bei dem Thema auf eine gemeinsame Stellungnahme zu einigen, unterstreicht hingegen, wie politisch aufgeladen der Konflikt auf internationaler Ebene ist – eine Hürde, mit der auch Karim Khan zu kämpfen haben wird.
Dauergegner USA im Visier
Dabei könnten besonders die USA ein wichtiger Gegenspieler des zukünftigen Chefanklägers werden. Denn selbst wenn Präsident Joe Biden dem internationalen Gericht versöhnlicher gegenübersteht als sein Vorgänger Donald Trump, so gilt auch er nicht als Befürworter des internationalen Gerichts und hatte sich bereits 1998 gegen die Gründung des ICC ausgesprochen. Die USA erkennen den Internationalen Strafgerichtshof seit seiner Entstehung 2002 nicht an. Im Gegenteil, im selben Jahr wurde in den Vereinigten Staaten ein Gesetz verabschiedet, welches den USA erlaubt, amerikanische Staatsbürger, die vom ICC in Den Haag festgehalten werden, militärisch zu befreien. Dass US-Amerikaner sich vor dem Gericht verantworten mussten, war bislang noch nie der Fall.
Das könnte sich nun ändern. Am 5. März 2020 entschieden die Richterinnen und Richter des ICC einstimmig, mögliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Afghanistan zu untersuchen. Der Entscheidung waren jahrelange Vorermittlungen zu internationalen Verbrechen in Afghanistan seit 2003 vorausgegangen. Trotz zahlreicher Hinweise auf schwere Verbrechen wurde die Eröffnung einer Untersuchung in erster Instanz jedoch aufgrund der absehbaren mangelnden Kooperation der involvierten Akteure mit dem Gericht vorerst abgelehnt. Chefanklägerin Fatou Bensouda ging daraufhin in Berufung - und hatte Erfolg. Die Richterinnen und Richter kippten die Entscheidung und urteilten nun, dass Ermittlungen in Afghanistan, seit 2003 Vertragsstaat des ICC, doch möglich seien. Im Visier der Anklage stehen dabei sowohl die Taliban und afghanische Sicherheitsbehörden als auch ausländische Militärs, insbesondere US-Soldaten und Angehörige des US-Geheimdienstes CIA. Die USA reagierten harsch auf das Urteil und verhängten im September 2020 Sanktionen gegen die Chefanklägerin und Mitarbeitende des Gerichts. Zwar sind diese Sanktionen mittlerweile aufgehoben, eine Kooperation der USA bei den Ermittlungen in Afghanistan ist jedoch kaum zu erwarten.
Strukturelle Probleme – auch intern
Karim Khan kann sich also auf Gegenwind gefasst machen. Und damit nicht alles: Neben der politischen Brisanz der laufenden Ermittlungen, wird er sich auch allgemeinen Problemen des Strafgerichtshofs stellen müssen, darunter der schleppenden Bearbeitung von Fällen und der mangelnden Anerkennung des Gerichts durch einflussreiche Staaten wie den USA, China oder Russland. Auch intern kommen große Herausforderungen auf den Briten zu. Der Bericht einer Expertenkommission unter der Leitung des südafrikanischen Richters Richard Goldstone zur Funktionsweise des Weltstrafgerichts stellte letztes Jahr schwere Mängel fest: Neben bürokratischen, ineffizienten Prozessen fällt dabei besonders das schlechte Arbeitsklima auf, mit Hinweisen auf Diskriminierung, mutmaßliche sexuelle Belästigung und ein autoritäres Regime. Es gilt also, die Glaubwürdigkeit des ICC sowohl nach außen als auch nach innen langfristig wiederherzustellen. Wie Karim Khan dies in seiner neunjährigen Amtszeit umsetzen will, wird die Zukunft zeigen.
Rebecca Fleming