Reform unzeitgemäßer Handlungsmuster
Die sicherheitspolitische Debatte startete in das Jahr 2020 unter anderem mit der Münchner Sicherheitskonferenz und einer Bestandsaufnahme über die Bedeutung des Westens in den internationalen Beziehungen. Sie wurde mit dem Begriff „Westlessness“ zusammengefasst. Westlessness ist Ausdruck eines Bildes über eine Welt, die scheinbar „aus den Fugen geraten war“, die in eine „Unordnung“ mündete und die die internationale Gemeinschaft und mit ihr auch die Vereinten Nationen nicht mehr zu ordnen vermochten. Es stand die Frage im Raum, ob der Multilateralismus die richtige Antwort auf die Komplexität der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Herausforderungen ist oder Zeugnis seiner eigenen Handlungsunfähigkeit. Gegenwärtig stellt die COVID-19-Pandemie diese zentrale Frage erneut zur Debatte.
Doch in welchem Verständnis von Tun oder Nichtstun wird die Handlungsunfähigkeit der internationalen Gemeinschaft mit Blick auf globale Gesundheitskrisen diagnostiziert? Muss hier nicht eher von einer „Realitätsverweigerung aus Bequemlichkeit“ gesprochen werden? Bill Gates warnte bereits vor einigen Jahren vor der globalen Ausbreitung gefährlicher Infektionskrankheiten mit den eindringlichen Worten, die Welt müsse sich auf eine Pandemie genauso ernsthaft vorbereiten, wie auf einen Krieg. Mit einem derartigen sicherheitspolitischen Zugang zum Thema Epidemien oder Pandemien einher geht die Erkenntnis, dass die Folgen einer solchen Gesundheitskrise massive Auswirkungen auf die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften und Staaten haben.
Ausbruch von Pandemien wurde seit Jahren unterschätzt
Ein wirksamer Schlüssel zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten ist ein stabiler und wirksamer Gesundheitssektor: Dazu gehört die Einrichtung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung, einschließlich des Zugangs zu grundlegenden Gesundheitsdiensten. Insofern stellen alle globalen Entwicklungsinitiativen, denen die Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations) zugrunde liegen, auf die Investition in und die Stärkung von nationalen Gesundheitssystemen ab.
Das Problem im Umgang mit der COVID-19-Pandemie ist nicht etwa ein mangelndes Verständnis darüber, dass diese Krise nicht nur den Gesundheitssektor betrifft, sondern in alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens und staatlichen Systems hinein wirkt. Ein Blick auf den jährlichen Globalen Risikobericht des Weltwirtschaftsforums zeigt die eigentliche Ursache für eine „Realitätsverweigerung aus Bequemlichkeit“: Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Pandemien dieses Ausmaßes wurde seit Jahren unterschätzt. Auch der 2019 veröffentlichte Globale Gesundheitssicherheitsindex zeigt auf, dass Staaten kaum bis gar nicht auf gesundheitliche Großereignisse, wie eine Epidemie oder Pandemie vorbereitet waren. Insbesondere die sektorenübergreifende Zusammenarbeit zwischen Akteuren des Gesundheitssektors mit Akteuren anderer systemrelevanter Sektoren, etwa dem Wirtschafts- oder Sicherheitssektor, ist sehr schwach ausgeprägt. Und genau das führt mit Blick auf eine nachhaltige Präventions- oder schnell greifende Eindämmungsstrategie zu enormen Reibungsverlusten.
Und so verwundert es nicht, dass die Staaten der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus in ihren gewohnten nationalstaatlichen Denkmustern feststecken und sich der eigenen multilateralen Handlungsfähigkeit berauben. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) fordert zurecht die gemeinsame globale Anstrengung und politische Verpflichtung für ein ressortübergreifendes internationales Krisenmanagement, das das konsequente Ineinandergreifen von Regulierung und Eindämmung von COVID-19 in seinen Fokus stellt. Und das tut sie aus gutem Grund: Etwa fünfzig Prozent der nicht erreichten internationalen Gesundheitsziele entstehen in einem fragilen Umfeld; in Sozialgefügen, die von Konflikten und Kriegen betroffen sind.
Ein kurzer Blick auf die Zentralafrikanische Republik zeigt beispielhaft die Folgen der Nichtwahrnehmung der geforderten globalen Verantwortung auf: Es ist das Land mit der, global gesehen, geringsten Lebenserwartung und wird immer wieder von Epidemien wie Cholera oder Masern heimgesucht. Laut einem Ranking der International Crisis Group ist die Lösung des andauernden Bürgerkriegs zwischen muslimischen und christlichen Milizen ebenfalls nicht in Sicht. COVID-19 wurde aus Europa in die Zentralafrikanische Republik importiert und dieser Umstand führte zu Misstrauen und Gewalt gegen internationales Personal. Und genau das wird zunehmend zu einem Problem, denn die Gesundheitsinfrastruktur ist nicht nur marode. Der Hauptanteil der Gesundheitsversorgung im Land wird durch internationale humanitäre Hilfsorganisationen sichergestellt. Umgekehrt sind auch Sicherheits- und Hilfskräfte auf die intakte Gesundheitsversorgung angewiesen. Ohne eine funktionierende Rettungskette sind auch deeskalierende Operationen der Mehrdimensionalen integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in der Zentralafrikanischen Republik (United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in the Central African Republic – MINUSCA) nicht plan- und durchführbar. Ausgefallene Versorgungs- und Nachschubwege zum Beispiel für Blutkonserven aufgrund von Grenzschließungen im Rahmen von Mitigationsanstrengungen erhöhen das Risiko für Polizei und Streitkräfte, ihren Verletzungen zu erliegen.
Umfassende Risikoanalyse erforderlich
Ein Lerneffekt aus der COVID-19-Pandemie wird die Erkenntnis sein, dass Epidemien oder Pandemien nicht nur den afrikanischen oder asiatischen Kontinent betreffen. Sie folgen ihrer eigenen Funktionslogik. Bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes können sie in mehreren Wellen auftreten. Maßnahmen wie sozale Distanz, Kontaktreduzierung, die Einschränkung des internationalen Reise- und Geschäftsverkehrs müssten über mehrere Monate bis Jahre aufrecht erhalten werden.
Sich auf Pandemien wie auf Kriege vorzubereiten bedeutet daher nichts anderes, als eine ressortübergreifende und umfassende Risikoanalyse als modernes Handlungsmuster zu etablieren und in ein multilaterales Krisenmanagementsystem einzubetten. Die internationale Staatengemeinschaft muss im Verbund in der Lage sein, die Ursachen von Gesundheitskrisen globalen Ausmaßes zu verstehen und zu erkennen, um massive Folgeschäden für Staaten und Gesellschaften – nicht zuletzt im eigenen regionalen Sinn – zu minimieren.
Dr. Anja Opitz ist Politikwissenschaftlerin an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und Präsidentin der Global Health Security Alliance (GloHSA).