Seenotrettung oder Menschenschmuggel? Über die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer
Am 29. Juni 2019 legte die Kapitänin der Sea-Watch 3, Carola Rackete, gegen den Widerstand der italienischen Behörden mit ihrem Schiff im Hafen von Lampedusa an. An Bord: 40 Migranten, die die Sea-Watch 3 etwa zwei Wochen zuvor in der Nähe der libyschen Küste gerettet hatte. Anstatt die Flüchtlinge nach Libyen oder Tunesien zu bringen, entschied sich Rackete für eine Fahrt in den wesentlich weiter entfernten Hafen von Lampedusa. Nach tagelangen, erfolglosen Verhandlungen mit Italien fuhr sie die Sea-Watch ohne Erlaubnis in den Hafen ein und rammte dabei ein Boot der italienischen Finanzpolizei. Italiens Innenminister Matteo Salvini bezeichnete Rackete daraufhin als „Kriminelle“ und sprach von Seenotrettern als „Verbrecher“. Tatsächlich wurde Rackete nach ihrer Ankunft auf Lampedusa unverzüglich festgenommen. Ihr wurde unter anderem Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen. Die italienischen Richter hingegen sahen in Racketes Entscheidung, die Geflüchteten nach Italien zu bringen, eine Erfüllung ihrer „Pflicht zur Rettung von Menschenleben auf See“, und sprachen die Kapitänin frei.
Seenotrettung – eine Pflicht
Diese Verpflichtung zur Seenotrettung ergibt sich einerseits aus internationalem Seevölkergewohnheitsrecht, andererseits aus konkreten internationalen Abkommen. So ist laut Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (UNCLOS) aus dem Jahre 1982 jeder Seemann dazu verpflichtet, einer in Seenot geratenen Person unverzüglich Hilfe zu leisten. Die Verpflichtung zur Seenotrettung wurde bereits im Jahre 1910 im Brüsseler Abkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über Hilfeleistung und Bergung in Seenot zum ersten Mal kodifiziert und betrifft sowohl die staatliche als auch die private Seenotrettung. Auch nachfolgende internationale Übereinkommen zum Seerecht wie das Internationale Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS) beinhalten die Verpflichtung zur Hilfeleistung auf Hoher See. Das Internationale Übereinkommen über Seenotrettung (SAR) verpflichtet beispielsweise speziell Staaten dazu, auf See Hilfe zu leisten und definiert Regeln zur Kooperation bei der Suche und Rettung von Seenotleidenden.
Der „sichere Ort“
Doch worin genau besteht die Seenotrettung? In erster Linie gilt es – wie der Begriff sagt –, in Seenot geratene Menschen aus ihrer unmittelbaren Notlage zu befreien. Darüber hinaus sehen sowohl SOLAS als auch SAR einen Transport der Geretteten an einen sicheren Ort vor. Um diesen zu definieren, können die Richtlinien zur Behandlung von aus Seenot geretteten Personen herangezogen werden: So darf das Leben an einem „sicheren Ort“ nicht länger gefährdet und die wichtigsten menschlichen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und medizinische Grundversorgung müssen gesichert sein. Die Verpflichtung, aus Seenot gerettete Menschen an einen „sicheren Ort“ zu bringen, erklärt den Transport von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer in europäische Häfen – und dies obwohl eine Rückführung an die nordafrikanische Küste geografisch gesehen oft naheliegender wäre.
Kein Weg zurück
Eine Rückführung der Flüchtlinge in Länder wie Libyen und Tunesien durch Rettungsschiffe ist rechtlich schon daher umstritten, da die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 eine Ausweisung von Flüchtlingen in Gebiete, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit gefährdet sein könnte, verbietet. Darüber hinaus besagt die UN-Antifolterkonvention, dass „[e]in Vertragsstaat (…) eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern [darf], wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden.“ Auf Grundlage des Folterverbots, welches ebenfalls in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben ist, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahre 2012, dass Italien durch eine Zurückweisung von Seeflüchtlingen nach Libyen die Konvention verletzt hatte. Seenotretter dürfen also Flüchtlinge nicht in Länder zurückführen, in denen ihnen Folter droht. Dies führt unweigerlich dazu, dass sie die Menschen in andere Länder bringen – Länder, in denen die Geflüchteten nicht zwangsläufig ein Aufenthaltsrecht haben beziehungsweise erhalten. Sind Seenotretter somit Menschenschmuggler?
Seenotrettung ist nicht gleich Menschenschmuggel
Seit 2016 kamen Schätzungen zufolge mehr als 500.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Jährlich versuchen zigtausend Weitere ihr Glück, wobei neun von zehn dabei auf die Hilfe von sogenannten Schleusern oder Schleppern zurückgreifen. Diese ermöglichen gegen Bezahlung die illegale Einreise nach Europa. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (UNTOC) verfügt über ein Zusatzprotokoll gegen das Schleusen von Migranten. Gemäß dieses Protokolls handelt es sich dabei um die „Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Staat, dessen Staatsangehörige sie nicht ist oder in dem sie keinen ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen“. Während die Seenotrettung aus humanitären Motiven und ohne Gegenleistung erfolgt, sind Schleuser also ausschließlich an Profit interessiert. Tatsächlich ist Migrantenschmuggel eine extrem lukrative Industrie und gehört neben Drogenhandel, Waffenschmuggel und Menschenhandel zu den Straftatbeständen der organisierten Kriminalität. Der Umsatz von Migrantenschmuggler-Netzwerken wurde von Europol allein im Jahre 2015 auf drei bis sechs Millionen Euro geschätzt.
Migrantenschmuggel und die UN
Für die Bekämpfung des Migrantenschmuggels ist das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zuständig. Es behandelt alle Arten der internationalen, organisierten Kriminalität – darunter neben Menschenschmuggel auch Piraterie, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Diese Verbrechen treten gerade auf Hoher See oft in Verbindung miteinander auf oder favorisieren sich gegenseitig. Doch gerade auf Hoher See ist die effektive Bekämpfung von organisierter Kriminalität besonders schwierig, da es kein einheitliches Abkommen über schwere Verbrechen in internationalen Gewässern gibt und die gerichtliche Zuständigkeit dort oft unklar ist. Eine Option wäre daher, alle schweren Verbrechen auf Hoher See in einem internationalen Abkommen zu behandeln und als universelle Verbrechen anzuerkennen, die in allen Staaten vor Gericht gebracht werden können. Bezüglich der praktischen Umsetzung der Kriminalitätsbekämpfung auf Hoher See setzt UNDOC Präsident Yuri Fedotov auf die Arbeit mit Satellitenbildern und auf Fortbildungsmaßnahmen für Berufsgruppen, die für den Strafvollzug auf den Meeren zuständig sind.
Ob durch eine effektive Bekämpfung von Schleuseraktivitäten auch die Flüchtlingsströme zurückgehen, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass es zwischen Menschenschmugglern und Seenotrettern zu unterscheiden gilt und dass die Kriminalisierung letzterer weder eine Lösung zur Bekämpfung des Schleusens von Migranten darstellt noch rechtlich fundiert ist.
Rebecca Fleming