Wer nicht existiert, hat keine Rechte
Nach fast dreißig Jahren als Staatenlose, fand die im Libanon geborene Maha Momo 2018 endlich eine Heimat: Heute ist die Tochter syrischer Flüchtlinge stolze Brasilianerin. Als Aktivistin gegen Staatenlosigkeit erzählt die junge Frau bei vielen Gelegenheiten, was es heißt, wenn man auf die Frage nach der Nationalität keine Antwort hat: Viele Schulen hätten sie als Kind abgewiesen und auch ein Medizinstudium und eine Karriere als talentierte Basketballspielerin wären ihr im Libanon verwehrt geblieben. Herausfordernd seien auch vermeintlich kleine Dinge gewesen, wie der Kauf einer SIM-Karte oder das Beantragen eines Bibliotheksausweises. Täglich hätte sie Angst gehabt, nach ihrem Ausweis gefragt und möglicherweise verhaftet zu werden.
Die Nachteile einer Staatenlosigkeit wirken sich besonders stark in Krisen wie gegenwärtig der COVID-19-Pandemie aus. Impfungen, Behandlung und finanzielle Überlebenshilfen sind oft nur denjenigen zugänglich, die Ausweispapiere und Sozialversicherungsnummern vorweisen können.
Die Statistik tappt bei der Zahl der Staatenlosen im Dunkeln
Eine Staatsangehörigkeit zu besitzen, bedeutet mehr als nur die Möglichkeit, zu wählen, Grundbesitz haben zu dürfen oder zu reisen. Daran geknüpft ist vielerorts das Recht auf Bildung, die Berufsfreiheit und der Zugang zu Gesundheits- und sozialen Sicherungssystemen. Und diese Grundrechte werden vielen Staatenlosen verwehrt.
Das Recht auf eine Staatsbürgerschaft ist in Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten. Ein Abkommen, das Staatenlosigkeit verbietet, ist von den Vereinten Nationen nie beschlossen worden, stattdessen nur ein Übereinkommen zur Verminderung von Staatenlosigkeit. Im August wurde an den 60. Jahrestag dieses Übereinkommens erinnert. Die Statistik des UN-Flüchtlingshilfswerks verzeichnet offiziell weltweit 3,9 Millionen Staatenlose, doch die tatsächliche Anzahl wird von Expertinnen und Experten auf über 10 Millionen Menschen geschätzt. Der Grund: In vielen Ländern werden Staatenlose nicht einmal gezählt.
Auch Geschlechterdiskriminierung kann Staatenlosigkeit erzeugen
Ursachen für Staatenlosigkeit gibt es neben Vertreibung viele. Noch immer wird in 25 Ländern die Staatsbürgerschaft ausschließlich in väterlicher Linie weitergegeben. Darunter sind viele arabische Länder, weshalb Maha Momo auch dann ein staatenloses Kind gewesen wäre, wenn ihr syrischer Vater eine Libanesin geheiratet hätte. Aufgrund des internationalen Drucks bemühen sich inzwischen einige Länder, diese Diskriminierung von Frauen in ihren Staatsbürgerschaftsgesetzen zu reformieren. Im Libanon-Bericht des Bertelsmann Transformation Index (BTI) von 2020 heißt es dazu: „Am 21. März 2018 kündigte der Außenminister die Möglichkeit an, das Staatsbürgerschaftsgesetz dahingehend zu überarbeiten, die offensichtliche Geschlechterdiskriminierung zu beseitigen, doch der Vorschlag wurde bisher nicht umgesetzt und soll Palästinenser und Syrer auch weiterhin von der Möglichkeit des Erwerbs der Staatsbürgerschaft ausschließen.“
Oft sind ethnische oder religiöse Gründe oder eine Kombination aus beidem für das Verwehren von Staatsbürgerschaft ausschlaggebend, wie bei den Rohingya in Myanmar, den Roma, die durch die Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens vertrieben wurden, den vielen ethnischen Gruppen in Thailand, den syrischen Kurden oder den russischsprachigen Minderheiten in Estland und Lettland, die im Zuge der Unabhängigkeit der ehemals sowjetischen Länder keine Staatsbürgerschaften erhielten.
In Lettland sind trotz Bemühungen, die Einbürgerung zu erleichtern, nach Angaben des BTI-Länderberichts noch immer knapp 230.000 der 2 Millionen Einwohner staatenlos. Immerhin verabschiedete das lettische Parlament, wie zuvor schon das estnische, ein Gesetz, wonach seit 2020 zumindest die in Lettland geborenen Kinder der sogenannten Nichtbürger ab Geburt automatisch die lettische Staatsbürgerschaft erhalten.
Ausbürgerung als politisches Instrument
Während sich viele Länder auf Druck der UN bemühen, die Zahl ihrer staatenlosen Einwohner zu reduzieren, verabschiedete die hindu-nationalistische Regierung Indiens im Dezember 2019 ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz, das erstmals in der Geschichte Indiens Religionszugehörigkeit als Kriterium für eine Einbürgerung festlegt – und Muslime dabei ausschließt. Damit weckte die Regierung die Befürchtung, dass im Zuge einer Überprüfung für ein landesweites Staatsbürgerschaftsregister Millionen indischer Muslime, von denen viele schon seit Generationen im Land leben, aber weder Geburtsurkunden noch Papiere besitzen, um dies zu beweisen, ihrer Staatsbürgerrechte beraubt und somit entrechtet werden könnten.
Das indische Beispiel zeigt, wie Staatsbürgerschaftsrecht für die Verfolgung politischer und ideologischer Ziele – in diesem Fall die „Einheit und Größe Indiens als Nation der Hindus“ wiederherzustellen – eingesetzt wird. Parteien versprechen bestimmten Bevölkerungsgruppen die Einbürgerung, um sich politische Unterstützung zu sichern. Regierungen machen Einbürgerungen unmöglich, um oppositionelle Bewegungen zu schwächen. Auch der Entzug von Staatbürgerschaften wird eingesetzt, um Opposition im Parlament und politisch Andersdenkende zu unterdrücken. Ausbürgerungen aus politischen Motiven gab es in den letzten zehn Jahren beispielsweise in Kuwait, Bahrain und erst jüngst in Ägypten. Im vergangenen Sommer ergänzte auch der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko per Dekret das Staatsbürgerschaftsgesetz um ein Verfahren zur Ausbürgerung von „Extremisten“ – ein weiteres Druckmittel, die politische Opposition mundtot zu machen.
2014 verkündete das UNHCR einen globalen Aktionsplan, der die Staatenlosigkeit innerhalb einer Zehn-Jahres-Frist beenden soll. Nur noch drei Jahre vor dem Auslaufen dieser Frist, ist die Staatengemeinschaft von diesem Ziel weit entfernt. Dennoch hat die Kampagne bereits jetzt erreicht, dass die Probleme der oft marginalisierten Staatenlosen stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt sind und in vielen Ländern kleine Schritte unternommen wurden, Einbürgerungen zu erleichtern. Einige Länder haben sich für die kommenden Jahre zu weiteren Fortschritten verpflichtet, beispielsweise wollen die Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft das Problem der Staatenlosigkeit bis 2024 lösen. Trotz solcher positiven Entwicklungen müssen die Vereinten Nationen auch weiterhin alles daransetzen, Staatenlose weltweit vor Diskriminierung und Einschränkung ihrer Rechte zu schützen.
Karola Klatt, Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der SGI News und des BTI Blogs der Bertelsmann Stiftung