Wohnraum sichern, Zwangsräumungen und Vertreibung verhindern
„Auf der Habitat III-Konferenz war das Wort Vertreibung tabu“, sagt Cesare Ottolini, Koordinator der International Alliance of Inhabitants (IAI). „Daher haben wir unser eigenes Forum geschaffen.“ Die IAI ist ein globales Netzwerk aus Bürgerinitiativen und sozialen Basisbewegungen. Sie begeht den „urbanen Oktober“ der Vereinten Nationen als „World Zero Eviction Days“ mit Aktivitäten in städtischen wie auch in ländlichen Regionen. Das Netzwerk macht auf eine oft verfehlte Wohn-, Siedlungs- und Wirtschaftspolitik in zahlreichen Ländern aufmerksam, die grundlegende Rechte der Menschen übergeht oder sogar auf gravierende Weise verletzt.
„Das Recht auf angemessenes Wohnen im internationalen Menschenrechtsrahmen bedeutet einen Ort zu haben, an dem man in Frieden, Sicherheit und Würde leben kann. Es ist also sehr viel mehr als nur vier Wände und ein Dach.“
Leilani Farha, UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen, in ihrer Videobotschaft zum Tribunal
Tourismus als treibende Kraft oder einer von vielen Faktoren
Das Tribunal in Venedig stand im Zeichen des „internationalen Jahres zu nachhaltigem Tourismus für Entwicklung 2017“. Es stellte jedoch den erst kürzlich am Welttourismustag am 27. September vom scheidenden Generalsekretär der Welttourismusorganisation (UNWTO), Taleb Rifai, beschworenen „Beitrag des Tourismus als großartige Aktivität der Menschen im 21. Jahrhundert für eine bessere Zukunft für die Menschen, den Planeten, Frieden und Wohlstand“ ein gutes Stück weit in Frage.
Denn in vielen Teilen der Welt spielt der Tourismus eine nicht unerhebliche Rolle, wenn Menschen von ihrem Land oder aus ihren Wohnungen oder Häusern verdrängt oder vertrieben werden. Fünf Fälle von Vertreibung, die bereits stattgefunden haben, stattfinden oder bevorstehen, wurden vor dem Tribunal in Venedig angehört. In allen diesen Fällen werden fundamentale Menschenrechte verletzt.
Immobilienspekulation in La Boca, Buenos Aires
In La Boca im Süden der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires kam es im Laufe der vergangenen Jahre immer häufiger zu Zwangsräumungen. Rund 2500 Familien sind betroffen, berichten Natalia Gimena Quinto und Carolina Sticotti. Sie engagieren sich im lokalen Netzwerk „La Boca resiste y propone“, das mit den Problemen in der Nachbarschaft praktisch wie politisch umzugehen versucht. Der Bezirk ist von besonderer politischer Bedeutung und kulturell einmalig und vielfältig. Seine einst von Hafenarbeitern errichteten bunten Häuser aus Holz und Wellblech sind eine beliebte Touristenattraktion. Meist kämen Tagesbesucher, so Carolina Sticotti, denn der Bezirk gelte ab Einbruch der Dunkelheit als gefährlich. Dennoch sei er von massiver Immobilienspekulation betroffen, insbesondere in Zusammenhang mit der Ausweisung als „Kunst-Bezirk“, wo vor allem Galerien entstehen sollen. Viele der Häuser, die die Einheimischen in La Boca sich gerade noch leisten können, seien in miserablem Zustand, zum Teil fast unbewohnbar. Forderten die Mieter Instandhaltungsmaßnahmen und weigerten sich, die Miete zu zahlen, riskierten sie die Zwangsräumung. Dann werde das Haus oder die Wohnung zu einem höheren Mietpreis im gleichen schlechten Zustand neu vermietet. Auch wenn Eigentümer verkaufen (inzwischen eine profitable Option), seien Zwangsräumungen das Mittel der Wahl, Mieter loszuwerden. Mehrere Holzhäuser seien abgebrannt, durch Kurzschlüsse und aufgrund ihrer Baufälligkeit.
Die Stadtverwaltung stelle Profitinteressen über die Rechte der Bevölkerung und verletze sowohl lokale Gesetze als auch anerkannte Menschenrechtsstandards, so der Vorwurf aus der Bürgerbewegung. „La Boca resiste y propone“ leistet Rechtsberatung in Fällen von Zwangsräumung, hilft in Notfällen wie bei Bränden und leistet Nachbarschaftshilfe mit notdürftigen Reparaturen. Hinzu kommen Aktivitäten zur Durchsetzung politischer Forderungen zur Behebung des Wohnungsnotstands, wie der Forderung nach Instandhaltung der Häuser und sozialem Wohnungsbau. Die Vertreterinnen aus La Boca hoffen auf die Stärkung ihrer Anliegen durch das Tribunal, das politischen Druck ausüben kann und internationale Solidarität fördert.
Folgen der Touristifizierung Venedigs
Auf der Insel Pellestrina wie auch in anderen Bezirken Venedigs und vor allem im historischen Zentrum ist es für Einheimische geradezu unmöglich geworden, Wohnraum zu mieten, berichtet Matelda Bottoni von der venezianischen Vereinigung der Mieter (Unione Inquilini). Nur “Ferienwohnungen” seien auf dem Markt, die keine langfristige Nutzung vorsehen. Eigentumswohnungen oder Häuser seien für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Insel prohibitiv teuer. Einheimische, die durch ihre Arbeit oder Familiensituation darauf angewiesen sind, in Pellestrina zu wohnen, sähen sich gezwungen, auf Touristenunterkünfte auszuweichen. Die Mietpreise dafür seien hoch, die Unterkünfte nur temporär verfügbar.
Mit der Verdrängung der Wohnbevölkerung durch die Touristifizierung wird auch die medizinische Grundversorgung zurückgefahren. Es gibt immer weniger Schulen und andere Bildungsangebote. So zieht die Verletzung des Rechts auf Wohnraum weitere Rechtsverletzungen nach sich. Allein in Pellestrina sind etwa 200 Familien betroffen.
Betrachtet ganz Venedig, sind es noch viel mehr. Im historischen Teil der Stadt ist die Wohnbevölkerung auf 54.000 Einwohner geschrumpft. 1953 hatte er noch 175.000 Einwohner. Im historischen Stadtzentrum verfallen denkmalgeschützte Gebäude, weil die Vorgaben der UNESCO ihren Erhalt so verteuern, dass sich viele der noch verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner eine Sanierung nicht leisten können.
Sri Lanka: Landraub im Namen des Tourismus
Während es in Städten wie Buenos Aires und Venedig vor allem um Verletzungen des Rechts auf Wohnen geht, verschärft in ländlichen Regionen in Entwicklungsländern der Verlust gesamter Lebensgrundlagen die dramatische Situation der Betroffenen.
Im August 2010 wurden in Panama an der Ostküste Sri Lankas 350 Familien mit Waffengewalt von ihrem Land vertrieben, ihr Besitz niedergebrannt. Das Militär besetzte 1.220 Morgen Land, wo nun nach und nach Hotels gebaut werden. Die zwangsvertriebenen Familien wehren sich und fordern ihr Land zurück. „In Sri Lanka haben wir alle unsere Möglichkeiten ausgeschöpft. Die Unterstützung durch das Tribunal ist unsere letzte Hoffnung“, sagt Somasiri P., einer der betroffenen Bauern und Fischer. Panama ist nur einer von mehreren Orten in Sri Lanka, wo Dorfbewohner vertrieben werden, um einer touristischen Erschließung den Weg zu ebnen.
Indien: Neuer Flughafen für die Hauptstadtregion Neu-Delhi
Einem geplanten Großflughafen in Jewar im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh sollen nach Presseberichten rund 20 Dörfer mit rund 57.000 Menschen weichen. Die Bewohnerinnen und Bewohner lebten bislang hauptsächlich von der Landwirtschaft. Der Flughafen ist Teil der weiteren Urbanisierung und Industrialisierung der Hauptstadtregion Neu-Delhi. Der vorgesehene Standort liegt zwischen Neu-Delhi und Agra mit dem Taj Mahal als einer der Hauptsehenswürdigkeiten im Indien-Tourismus.
Die Erfahrungen mit anderen Großprojekten in Indien, wie zum Beispiel Staudämmen, zeigen, dass die Umsiedlung und Entschädigung der von Vertreibung betroffenen Familien oft mit großen Problemen behaftet ist. Adäquates, fruchtbares Land als neue Lebensgrundlage steht selten zur Verfügung, die Entschädigungszahlungen sind oft unzureichend und die sozialen Dimensionen einer massiven Umsiedlung bleiben unberücksichtigt.
Kenia: Gewalt gegen vertriebene Maasai unter dem Vorwand von Naturschutz und Tourismus
Die Vertreibung der Maasai von ihrem angestammten Land in Kenia begann vor über 100 Jahren, setzte sich fort und wirkt sich heute auf immer dramatischere Weise aus, berichtet Wilfred Olal Madigo von der kenianischen Anti Eviction Campaign. In Folge einer dramatischen Dürre Anfang 2017 seien die Viehhirten auf der Suche nach Weideland auf die großen privaten Schutzgebiete ausgewichen – Gebiete, die einst ihnen gehörten. Es sei zu gewaltsamen Konflikten gekommen. Zum Schutz der weißen Großgrundbesitzer sei das kenianische Militär eingeschritten. Mehr als 50 Menschen, über 1.500 Rinder und 50.000 Ziegen seien getötet, Maasai-Hütten niedergebrannt worden.
Angemessenes Wohnen als staatliche und privatwirtschaftliche Aufgabe
„Die Staaten müssen wissen, dass sie verpflichtet sind, alles ihnen Mögliche zu tun, um das Recht auf angemessenes Wohnen umzusetzen“, sagt Leilani Farha in ihrer Videobotschaft. „Wenn sich ein Staat bei der Umsetzung des Rechts auf die Privatwirtschaft verlässt, muss er sicherstellen, dass die privatwirtschaftlichen Akteure im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards agieren. Die Staaten sind tatsächlich verpflichtet sicherzustellen, dass Dritte – ob Vermieter oder Investoren in Wohnimmobilien – die staatlichen Menschenrechtsverpflichtungen ebenfalls einhalten.“
Tun sie dies nicht, verfügten die Vereinten Nationen zwar über wenige, aber doch einige hilfreiche Mechanismen, um die Staaten an ihre Verpflichtungen zu erinnern, meint Robert Robinson von "Take back the land", USA. Dazu gehöre die „allgemeine regelmäßige Überprüfung“ (Universal Periodic Review – UPR), eines der wichtigsten Instrumente des UN-Menschenrechtsrates in Genf. Im Vierjahresturnus erfolgt damit eine Bestandsaufnahme der Menschenrechtslage in den UN-Mitgliedstaaten.
Auch die Sonderberichterstatterinnen der Vereinten Nationen, zum Beispiel für das Recht auf angemessenes Wohnen oder für die Rechte indigener Völker haben unter Umständen die Möglichkeit, sich in den vor dem Tribunal angehörten Fällen einzusetzen. Vor allem müssen die diejenigen, die die Vertreibungen verursacht haben, zur Verantwortung gezogen werden – dafür will sich das Tribunal in den kommenden Monaten einsetzen. Denn grundsätzlich gilt, so Leilani Farha: “Zwangsvertreibungen sind eine grobe Menschenrechtsverletzung und dürfen nicht passieren”.
Christina Kamp
Weitere Informationen:
Dokumentarfilm "Re: Überleben in Venedig. Einwohner wehren sich gegen Massentourismus", WDR, 2017