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Zunehmende Unsicherheit

Die Unsicherheit wächst – und das nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine und der Corona-Pandemie. Ein neuer Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) untersucht unterschiedliche Bedrohungen für die menschliche Sicherheit, warnt vor neuen Gefahren und setzt auf Solidarität.

Eine Luftansicht eines Hausdaches, auf das sich Menschen gerettet haben, umgeben von einer Überschwemmung
Auch Naturkatastrophen haben großen Einfluss auf die menschliche Sicherheit - wie diese Überschwemmung nach einem Sturm auf Haiti im Jahr 2004. (UN Photo/Sophia Paris)

Unter dem Titel “New threats to human security in the Anthropocene: Demanding greater solidarity” dokumentiert UNDP in einem Sonderbericht die zunehmende Unsicherheit in der Bevölkerung in vielen Ländern der Welt. Insbesondere auch in Ländern mit hohem Wohlstandsniveau und gutem Gesundheits- und Bildungswesen sei die Verunsicherung größer als noch vor zehn Jahren. Demnach führt Entwicklung nicht automatisch zu einem stärkeren Gefühl von Sicherheit, vielmehr hätten sich Entwicklung und Sicherheit voneinander abgekoppelt.

„Es ist der Mensch, der die Welt unsicherer und gefährlicher macht“, so UN-Generalsekretär António Guterres in seinem Vorwort zum Bericht. Gewaltsame Konflikte, Terrorismus, Kriminalität, Cyberangriffe, Gesundheitsrisiken, Ernährungsunsicherheit, wirtschaftliche Probleme, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung zählen zu den Gefahren, die Sorgen, Ängste und Misstrauen schüren. Schließlich hat die Corona-Pandemie mit all ihren Verwerfungen ihr Übriges dazu getan und der Krieg in der Ukraine schafft eine zusätzliche akute Bedrohungslage.

Auf solche teilweise neuen, komplexen und zeitgleich auftretenden Bedrohungen sind die Gesellschaften bislang nicht gut vorbereitet, warnt UNDP. Und auch nicht auf die Art und Weise, in der diese Bedrohungen miteinander zusammenhängen und zusammenwirken. Denn einige Bevölkerungsgruppen und einige Regionen sind meist stärker und anders betroffen als andere.

Das Konzept menschlicher Sicherheit

Mit dem Bericht will UNDP dazu beitragen, das Konzept menschlicher Sicherheit so weiterzuentwickeln, dass es diese neuen Realitäten widerspiegelt. Als 1994 im Bericht über die menschliche Entwicklung (Human Development Report, HDR) das Konzept der menschlichen Sicherheit eingeführt wurde, bedeutete dies eine Abkehr von der Vorstellung, dass sich Sicherheit in erster Linie an territorialer Sicherheit bemisst. Neu betont wurde die Sicherheit der Menschen, ihrer Grundbedürfnisse und ihrer Würde. Diese Neuausrichtung bekräftigte 2012 die UN-Generalversammlung und betonte das Recht aller Menschen, ohne Not, ohne Angst und in Würde leben zu können.

Der neue Sonderbericht 2022 nimmt nun zusätzlich die Abhängigkeiten der Menschen untereinander sowie zwischen Mensch und Umwelt in den Blick. Es werden eine Reihe von Bedrohungen herausgestellt, die in der jüngsten Vergangenheit besonders an Gewicht gewonnen haben, darunter die Schattenseiten digitaler Technologien, horizontale Ungleichheiten und gewaltsame Konflikte. Unter politischer Gewalt litten 2020 vor allem Afghanistan, Mexiko, Syrien, die Ukraine und der Jemen, aber auch in einigen afrikanischen Ländern und im Irak habe die Gewalt erheblich zugenommen. Nach den im Bericht erfassten UN-Daten leben insgesamt etwa 1,2 Milliarden Menschen in Regionen, die von Konflikten betroffen sind, und fast die Hälfte von ihnen (560 Millionen) in Ländern, die normalerweise nicht als fragil gelten. Hierin sind aktuelle Daten zur Eskalation des Konflikts in der Ukraine und deren Folgen noch nicht enthalten.

Hinzu kommen neue Gefahren wie der Klimawandel, denen die gesamte Menschheit ausgesetzt ist. Allerdings sind die Mittel und Fähigkeiten zur Anpassung sehr ungleich verteilt. Ausführlich beleuchtet der Bericht die (Un-)Fähigkeit von Gesundheitssystemen, aktuelle und zukünftige Krisen wie die Corona-Pandemie und die Klimakrise zu bewältigen.

Gesundheitssysteme auf dem Prüfstand

Über die vergangenen Jahrzehnte haben die Vereinten Nationen in vielen Teilen der Welt enorme Fortschritte im Gesundheitsbereich dokumentiert. So zum Beispiel bei der Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit und bei Erhöhung der Lebenserwartung. HIV/Aids, Malaria und Durchfallerkrankungen sind heute oft nicht mehr so tödlich, wie sie es einst waren. Doch die Corona-Pandemie habe zu herben Rückschlägen geführt. Im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie sei die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt weltweit nun das zweite Jahr in Folge gesunken – um durchschnittlich 1,5 Jahre.

Die Corona-Pandemie hat Schwächen der Gesundheitssysteme offengelegt, die vielerorts schon lange vorher existierten. Selbst gut ausgestattete Gesundheitssysteme können in Krisen wie einer Pandemie oder einem Krieg schnell an ihre Grenzen geraten, und das in Zukunft womöglich häufiger als in der Vergangenheit. Die Autorinnen und Autoren des Berichts sehen jetzt einen guten Zeitpunkt gekommen, die Gesundheitssysteme unter dem Aspekt menschlicher Sicherheit einer Neubewertung zu unterziehen und sie entsprechend zu reformieren.

Es gelte, den neu entstandenen Herausforderungen für die Gesundheitssysteme stärker Rechnung zu tragen. Denn Krankheiten wie COVID-19, die zwischen Mensch und Tier übertragbar sind (Zoonosen), dürften in Zukunft häufiger auftreten. Auch verursachen heute Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und andere nicht übertragbare Krankheiten eine sehr viel höhere Krankheitslast als in der Vergangenheit und fordern eine Vielzahl an Todesopfern. Weltweit könnte sich zudem der Klimawandel zu einer der häufigsten Todesursachen entwickeln.

Neuer Index für allgemeine Gesundheitsversorgung

Um zu messen, inwieweit die existierenden Gesundheitssysteme allen Menschen dienen, führt UNDP in dem Sonderbericht einen neuen Index ein – den „Healthcare Universalism Index (HUI)“. Er erfasst die Leistungen des jeweiligen Gesundheitssystems im Verhältnis zum Versorgungsbedarf der Bevölkerung, den Anteil der staatlichen Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt und den Anteil der privaten an den gesamten Gesundheitsausgaben. Eine Erkenntnis aus dem neuen Index: Zwischen 1995 und 2017 ist im Gesundheitswesen die Kluft zwischen Ländern mit niedriger und Ländern mit sehr hoher menschlicher Entwicklung gewachsen.

Angesichts des deutlichen „Kollisionskurses“ zwischen Mensch und Planet ist für UNDP-Administrator Achim Steiner die „gemeinsame Menschlichkeit“ im 21. Jahrhundert eine Frage des Überlebens. Mit der vielfältigen Verflechtung der Gesellschaften durch Menschen, Waren und Informationen hängt die menschliche Sicherheit jeder und jedes Einzelnen eng mit der Sicherheit der anderen zusammen („gemeinsame Sicherheit”). Diese Erkenntnis aus der Corona-Pandemie wird im Zeitalter gravierender menschengemachter Veränderungen des Planeten immer weiter an Bedeutung gewinnen und gilt für die verschiedenen Gefahren und Bedrohungen, denen die Weltbevölkerung ausgesetzt ist. Ganz aktuell zeigt sich, wie der Krieg in der Ukraine sich global auswirkt und die Energieversorgung und Ernährungssicherheit in vielen anderen Teilen der Welt gefährdet.

Der UNDP-Bericht zeigt wichtige Strategien für die Zukunft auf. Zum einen setzt er auf Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Menschen, ihre Zukunft zu gestalten und Kurskorrekturen vorzunehmen. Dazu gehöre auch die sinnvolle Beteiligung an Entscheidungsprozessen. ‘Empowerment‘ und Schutzmaßnahmen zur Gewährleistung menschlicher Sicherheit bleiben wichtig. Doch zusätzlich komme der Solidarität im Anthropozän eine Schlüsselrolle zu, um den wechselseitigen Abhängigkeiten der Menschen untereinander sowie zwischen Mensch und Umwelt Rechnung zu tragen.

Christina Kamp


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