Der Internationale Strafgerichtshof und der Fall um die Rohingya – eine wegweisende Entscheidung?
Es war eine 2-1 Mehrheitsentscheidung, mit der die Richter am 6. September 2018 die Zuständigkeit des IStGH im Fall der gewaltsamen Vertreibung der Rohingya erklärten. Sie antworteten damit auf eine im April 2018 eingereichte Anfrage der Chefanklägerin Fatou Bensouda. Bislang waren dem internationalen Gericht im Falle der Rohingya die Hände gebunden. Denn gemäß Art. 12(2) des Römischen Statuts kann der IStGH nur ermitteln, wenn die Verbrechen, für die er materiell zuständig ist, entweder innerhalb eines Mitgliedstaats oder von einer Person aus einem Mitgliedstaat begangen wurden. Da Myanmar kein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs ist und sich diesem gegenüber nicht kooperativ zeigt, war eine Ahndung der Verbrechen, die von myanmarischen Staatsangehörigen in Myanmar gegen die Rohingya begangen wurden, durch den Gerichtshof nicht möglich. Einzig eine Resolution des UN-Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta hätte eine Untersuchung des Falls durch das Gericht erlaubt.
In ihrer Entscheidung erklärten die Richter, dass das Verbrechen der Vertreibung auch auf dem Staatsgebiet stattfindet, in welches Menschen vertrieben werden, nicht nur wo es seinen Ausgang nimmt. Da zahlreiche Rohingya in den letzten Jahren gewaltsam nach Bangladesch vertrieben wurden, fand ihre Vertreibung also nicht nur auf dem Staatsgebiet Myanmars, sondern auch in Bangladesch statt. Bangladesch hat das Rom-Statut am 16. September 1999 unterzeichnet und im März 2010 ratifiziert und ist somit ein Mitgliedstaat des IStGH. Verbrechen, die auf dem Staatsgebiet von Bangladesch stattfinden, wie die gewaltsame Vertreibung der Rohingya, fallen daher in den Zuständigkeitsbereich des Gerichts.
Die Zuständigkeitsbegründung ist im Übrigen nicht nur auf das Verbrechen der Vertreibung beschränkt. So kann sie ebenfalls auf das Verbrechen der Verfolgung und der unmenschlichen Handlungen angewandt werden, letzteres insofern die Leiden durch eine Verwehrung der Rückkehr in das Heimatland hervorgerufen werden. Im Falle der Rohingya, so die Richter, gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Vertriebenen in Bangladesch sehr schlechten Lebensbedingungen ausgesetzt seien, aus denen sie nicht entkommen könnten, da ihnen die Rückkehr nach Myanmar verwehrt würde.
Die Situation der Rohingya
Der ursprüngliche Anlass für die Entscheidung des Gerichts zum Rohingya-Fall ist die seit Jahrzehnten andauernde Unterdrückung der muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar. Die Situation eskalierte im August 2017, nachdem bei einem Angriff der Rebellengruppe Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) mehrere myanmarische Grenzwächter ums Leben kamen. Die ARSA Rebellen folterten und ermordeten außerdem über 50 Hindus, darunter auch Kinder, und brannten neun Hindu-Ortschaften im myanmarischen Bundesstaat Rhakine nieder. Die gewaltsame Antwort der myanmarischen Streitkräfte auf den Angriff führte laut Schätzungen der UN zu etwa 10.000 Toten und mindestens 700.000 Vertriebenen.
Im November 2017 forderten daraufhin Frankreich, Großbritannien und die USA im UN Sicherheitsrat, Myanmar durch eine Resolution zur Verantwortung zu ziehen. Da jedoch China drohte, von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen und damit die Resolution zu blockieren, verurteilte der Sicherheitsrat das Vorgehen Myanmars letztendlich nur in einer nicht bindenden präsidentiellen Erklärung, in der er forderte, die Gewalt gegen die Rohingya einzustellen. Im August 2018 präsentierte eine unabhängige Expertenkommission der UN einen Bericht zur Menschenrechtssituation der Rohingya in Myanmar, in dem sie die Verbrechen an den Rohingya als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als Kriegsverbrechen und sogar als Völkermord qualifizierte. Der Bericht empfahl eine Anklage der Verantwortlichen vor einem internationalen Gericht. UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet kündigte daraufhin die Gründung eines unabhängigen, internationalen Mechanismus für Myanmar an, der durch die Sammlung und Sicherung von Beweisen zu fairen nationalen und internationalen Strafverfahren beitragen soll.
Die Auswirkungen der Rohingya-Entscheidung
Die Entscheidung der Richter in Den Haag über die Zuständigkeit des IStGH macht deutlich, dass sobald ein Bestandteil eines internationalen Verbrechens auf dem Territorium eines Mitgliedstaats verübt wird, die Anklägerin des Gerichts die Möglichkeit hat, auch gegen Verantwortliche aus Nicht-Vertragsstaaten Ermittlungen einzuleiten.
Dies ist auch in Hinblick auf die aktuelle Situation in Libyen oder in Syrien von Belang. Beide Staaten sind keine Vertragsstaaten des IStGH. Große Teile der Bevölkerung dieser Länder sind jedoch durch die anhaltenden Konflikte ins Ausland, zum Beispiel nach Jordanien, seit 1998 Vertragsstaat des IStGHs, vertrieben worden. Findet die Argumentation der Rohingya-Entscheidung hier Anwendung, könnte dies dem Internationalen Strafgerichtshof erlauben, in der Region aktiv zu werden und Ermittlungen gegen Verbrechen, die in Syrien oder Libyen ihren Ursprung haben, einzuleiten.
Abgesehen von den Auswirkungen auf die Zuständigkeit des IStGH wirkt die Entscheidung einmal mehr der wiederkehrenden Kritik entgegen, nach der sich das Gericht ausschließlich mit Fällen auf dem afrikanischen Kontinent befassen würde. Die Entscheidung zeigt, dass der Gerichtshof durchaus Verfahren in anderen Teilen der Welt anstrebt. Dieser Trend zur Internationalisierung wurde bereits durch die Eröffnung von Untersuchungsverfahren in Kolumbien und Afghanistan deutlich.
Doch welche Konsequenzen hat die Entscheidung konkret für die Rohingya? Unmittelbar im Anschluss an die Entscheidung über die Zuständigkeit des Gerichts wurde ein Vorermittlungsverfahren gegen Myanmar eingeleitet. Diese Vorermittlung beschränkt sich jedoch auf die Verbrechen, die einen Bezug zu Bangladesch aufweisen, also auf die Vertreibung der Rohingya. Verbrechen, die ausschließlich auf dem Staatsgebiet Myanmars stattgefunden haben, wie der im Expertenbericht erwähnte Völkermord, fallen weiterhin nicht in den Zuständigkeitsbereich des IStGH.
Durch die mangelnde Kooperation Myanmars mit dem Haager Gericht ist außerdem fraglich, ob die Verantwortlichen je zur Rechenschaft gezogen werden. Selbst wenn es im Anschluss an die Vorermittlungen zu einer formellen Anklage und einem Prozess kommen sollte, heißt dies noch lange nicht, dass es auch zu einer Verurteilung der Verantwortlichen kommen wird.
Rebecca Fleming