Haftbefehlsantrag des ICC-Chefanklägers gegen den israelischen Premierminister – eine Einordnung
Am 20.5.2024 hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court - ICC) öffentlich bekannt gemacht, dass er bei der Vorverfahrenskammer Haftbefehle gegen drei Entscheidungsträger der Hamas, den israelischen Premierminister sowie den israelischen Verteidigungsminister beantragt hat. Wirklich überraschend kommt die Entscheidung nicht. So hat sich der ICC bereits seit über einem Jahrzehnt mit der Causa Nahost befasst. Nachdem der Staat Palästina im Jahr 2015 dem ICC beigetreten war und die Vorverfahrenskammer I am 5.2.2021 grundsätzlich die Zuständigkeit des ICC bejaht hat, war es nur eine Frage der Zeit bis die Ermittlungen auch in konkrete Verfahren gegen konkrete Beschuldigte münden. Nach dem Überfall der Hamas vom 7.10.2023 und dem Beginn des (aktuellen) Gaza-Kriegs hat der Chefankläger mehrfach mit deutlichen Worten betont, dass er das aktuelle Kriegsgeschehen genau beobachte (vgl. die Stellungnahmen vom 30.10.2023, 3.12.2023, 6.12.2023). Dabei hat er stets die Einhaltung des humanitären Völkerrechts angemahnt.
Politische Reaktionen auf die Haftbefehlsanträge
Weitgehend erwartbar waren auch die Reaktionen auf die Pressemitteilung des Chefanklägers. So mag es kaum überraschen, dass sich sowohl israelische Politiker als auch die Hamas vehement ablehnend gegenüber dem Ansinnen des Chefanklägers äußerten. Die Ablehnung der Vereinigten Staaten, die den ICC bislang nicht anerkannt haben, dürfte Beobachter ebenfalls kaum überrascht haben. Man kann sich allerdings vorstellen, dass die Reaktion der US-Administration deutlich anders ausgefallen wäre, wenn statt Joe Biden Donald Trump Präsident gewesen wäre. Dessen Regierung hatte in der Vergangenheit sogar Sanktionen gegen Verantwortliche des ICC verhängt, die an Ermittlungen gegen US-Staatsbürger oder israelische Verantwortliche beteiligt waren. Auch heute sind Stimmen aus der US-amerikanischen Opposition zu hören, die ähnliche Maßnahmen fordern. Laut Presseberichten soll die US-Regierung bereit sein, derartige Pläne zu unterstützen.
Es ist insoweit zu begrüßen, dass die Bundesregierung öffentlich auf die Unabhängigkeit des Gerichts hingewiesen und erklärt hat, dass man sich an Recht und Gesetz halten werde. Dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, hat sich die Bundesrepublik Deutschland doch zu Recht stets für das Völkerrecht und die internationale (Straf-)Justiz eingesetzt. Befremdlich sind hingegen die Äußerungen des CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz. Zum einen wäre es keineswegs ein Skandal, wenn Deutschland einem ICC-Ersuchen auf Verhaftung eines Beschuldigten nachkommen würde. Dies wäre nach herrschender Meinung von Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern vielmehr die völkerrechtliche Pflicht der Bundesrepublik. Zum anderen mutet es seltsam an, wenn Merz argumentiert, der Internationale Strafgerichtshof sei eingerichtet worden, „um Despoten und autoritäre Staatsführer zur Rechenschaft zu ziehen, nicht um demokratisch gewählte Regierungsmitglieder festzunehmen.“ In einem Rechtsstaat kann die demokratische Wahl kein Schutzschild vor Strafverfolgung sein – erst Recht nicht bei völkerrechtlichen Kernverbrechen.
Im Übrigen steht die historische Behauptung auf äußerst wackeligen Füßen. So war die 1998 in Rom getroffene Entscheidung, ein permanentes internationales Strafgericht zu schaffen, vor allem eine Idee demokratischer Staaten. Diese wollten durch die Unterwerfung unter die Strafgewalt eines unabhängigen Strafgerichts ein Zeichen gegen selektive Strafverfolgung setzen. Man verzichtete sogar auf die Aufnahme des Universalitätsprinzips, was die Strafverfolgung von Despoten aus Nichtmitgliedstaaten deutlich erleichtert hätte. Dass es sich beim ICC gerade nicht (nur) um ein Strafgericht zur Ahndung von Despoten handelt, zeigt sich im Übrigen gerade an den Strafnormen, die vom Chefankläger in den Haftbefehlsanträgen gegen Netanyahu und Gallant herangezogen werden. Diese Strafnormen gehen zumeist auf Regelungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 sowie das Genfer Recht von 1949/1977 zurück. Diese sind das Fundament für die militärische Ausbildung der Armeen der demokratischen Welt, u.a. die Bundeswehr.
Man mag die Art und Weise der Bekanntmachung der Ermittlungen für inopportun halten, weil sie bei flüchtiger Betrachtung als Gleichsetzung von Hamas und israelischer Regierung verstanden werden könnte. Dabei darf indes nicht die vom Chefankläger vorgenommene Differenzierung und Darstellung unterschlagen werden, die u.a. das Selbstverteidigungsrecht Israels betont. Zudem sollte man sich die Frage stellen, ob der Chefankläger, dem nach eigenem Bekunden ausreichend Beweise für Straftaten beider Konfliktparteien vorliegen und der sich sogar durch ein externes Gremium hat beraten lassen, guten Gewissens auf die strafrechtliche Verfolgung einer Partei hätte verzichten können oder die Verfolgung dieser Taten aus Opportunitätsgründen hätte zurückstellen sollen. Der Chefankläger hat hierzu eine Antwort gegeben. Wie die Versammlung der Vertragsstaaten zu Recht betont, braucht er dabei die volle Unterstützung der Mitgliedstaaten.
Weiteres Verfahren
Ob die Beweise für den Erlass eines Haftbefehls ausreichen, haben nunmehr die Richter der Vorverfahrenskammer zu entscheiden. Die Beweisanforderungen für den Erlass eines Haftbefehls sind im Rom-Statut allerdings vergleichsweise niedrig. Der Chefankläger dürfte allerdings aus den Fehlern seiner Vorgänger gelernt haben und seine Ermittlungen nicht an diesem Standard ausgerichtet haben. Daneben werden sich die Richter mit diversen Rechtsfragen auseinanderzusetzen haben: Ist bei amtierenden Staats- und Regierungschefs aus Nichtmitgliedstaaten eine Immunität zu berücksichtigen? Bestehen trotz der 2021er Entscheidung noch Zweifel an der territorialen Zuständigkeit? Hat Israel eigene Ermittlungen durchgeführt, die dazu führen, dass der ICC nach dem Komplementaritätsgrundsatz unzuständig sind?
ein Meinungbeitrag von Mayeul Hieramente