„Ich lebte in einem Land, wo die Menschenrechte nicht für alle galten“
Frau Pillay, Sie wuchsen im Südafrika der 1940er-Jahre auf, also zur Zeit des Apartheidregimes. Wie hat es Ihr Verständnis von Menschenrechten geprägt, in einem Unrechtsregime zu leben?
Ich wurde in Clairwood geboren, einem Vorort der südafrikanischen Stadt Durban. Clairwood war explizit für Menschen indischer Abstammung ausgewiesen – meine Großeltern waren aus Indien eingewandert – und ziemlich vernachlässigt: die Straßen voller Schlaglöcher, keine Toiletten, kein Abwassersystem. Mir war von klein auf klar, dass die sogenannte ‚Rassentrennung‘ uns allen großen Schaden zufügt. Auch ich wurde unzählige Male rassistisch beleidigt und diskriminiert. Das prägt die eigene Wahrnehmung von Gerechtigkeit. Ab 1960 war es nicht-weißen Menschen wie mir in Südafrika erstmals erlaubt, eine Universität zu besuchen, allerdings getrennt von weißen Studierenden. Ich studierte in Durban Westville in einem Lagerhaus. Die untere Etage war voller Kartoffeln, wir lernten im Obergeschoss. Ständig tauchte die Sicherheitspolizei auf, rassistische Gewalt und Verhaftungen gehörten zum Alltag. Damals nahm ich mir vor, meinen Verstand zu nutzen, um mich hochzuarbeiten und etwas verändern zu können.
Als Strafverteidigerin haben Sie auch Anti-Apartheid-Aktivisten verteidigt. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?
Ich war die einzige Frau, die als Anwältin das berüchtigte Gefängnis auf Robben Island betreten hat, in dem Nelson Mandela inhaftiert war. Viele Aktivisten wurden dort misshandelt und gefoltert, Rechtsschutz gab es nicht. Später wurden all diese Fälle, die wir gesammelt hatten, von der Anti-Apartheid-Bewegung als Beweismittel gegen das Regime genutzt. Als der bekannte Aktivist Stephen Biko 1977 unter Folter ermordet wurde, forderte die Anti-Apartheid-Bewegung zwei Dinge von den UN: Sanktionen gegen die Apartheid-Regierung und eine UN-Konvention gegen Folter. Rückblickend betrachtet hat meine Arbeit also einen kleinen Beitrag zur Verabschiedung des Übereinkommens gegen Folter geleistet, von dem heute die ganze Welt profitiert.
Wie veränderte sich Ihre Arbeit, als es zum Regimewechsel in Südafrika kam?
Im Jahr 1994 erkämpften wir uns endlich ein demokratisches Südafrika. Wie alle Südafrikanerinnen und Südafrikaner erinnere ich mich noch ganz genau an den Moment, als Mandela aus Robben Island entlassen wurde. Im Jahr 1995 erhielt ich einen überraschenden Anruf: „Bleiben Sie dran, es ist der Präsident.“ Im ersten Moment dachte ich, jemand würde mich zum Narren halten, aber es war tatsächlich Mandela. Er verkündete mir, dass ich von der UN-Generalversammlung zur Richterin des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda – ICTR) ernannt worden war. Als einzige Frau unter den sechs Richtern.
Was waren besonders einprägsame Momente am ICTR?
Ich wirkte an zwei bahnbrechenden Urteilen mit. Zum ersten kam es im Rahmen des ‚Akayesu-Prozesses‘. Jean-Paul Akayesu war Bürgermeister einer ruandischen Provinz, in der viele Vergewaltigungen an Tutsi-Frauen verübt wurden. Es kam nie zu einem Urteil, weil es damals noch keine international einheitliche Definition von Vergewaltigung gab. Die von uns erarbeitete, geschlechterneutrale Definition wurde in das Römische Statut aufgenommen. Und wir haben das erste Urteil der Welt über sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen gesprochen.
Im zweiten Fall ging es um Medien. Alle Beweise deuteten darauf hin, dass sich der ruandische Völkermord ohne die Verbreitung von Hassreden über einen Radiosender nicht über das ganze Land ausgebreitet hätte. Wir argumentierten, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht absolut ist. Es unterliegt der Einschränkung, dass nicht zu Gewalt aufgerufen werden darf. Dieses Urteil ist mit Blick auf die massive Zunahme von Hassreden weltweit aktueller denn je.
Im Jahr 2003 wurden Sie in das Richtergremium des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court - ICC) in Den Haag gewählt. Was ist Ihnen aus dieser Zeit besonders im Gedächtnis geblieben?
Aus meiner Erfahrung in Ruanda wusste ich, dass viele Betroffene die Mitarbeitenden des ICTR regelrecht hassten. Sie hatten den Eindruck, dass wir die Täter des Völkermords gut behandeln würden, während sie, die Betroffenen von Vergewaltigungen und anderen traumatischen Erlebnissen, aussagen mussten, aber keinerlei Unterstützung erhielten wie Medikamente gegen HIV. Darum unterstützten wir die Forderung nach einer Form von Wiedergutmachung für die Betroffenen. Und wir haben durchgesetzt, dass auch die Angehörigen der Opfer eines Völkermords das Recht haben, am Prozess teilzunehmen. Sie können ihre Anwälte einschalten und selbst aktiv Fragen stellen.
2008 wurden Sie zur Hohen Kommissarin für Menschenrechte ernannt. Welche Themen haben Sie in dieser Position vorangetrieben?
Ich habe dazu beigetragen, dass sich die gesamten UN stärker für Menschenrechte einsetzten. Damals war die Ansicht weitverbreitet, dass Menschenrechte ausschließlich Aufgabe der Hohen Kommissarin in Genf seien. Mit der ‚Rights Up Front‘-Initiative sorgten wir dafür, dass UN-weit Menschenrechte auf der Tagesordnung stehen. Auch das Thema Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten habe ich angesprochen. Denn wenn sich eine Krise zuspitzte, wurde früher das Personal einer UN-Friedensmission in Sicherheit gebracht. In Ruanda hängten sich die Menschen an die Fahrzeuge der abziehenden UN-Mission und flehten darum, dass jemand bleiben sollte. Die meisten dieser Menschen starben kurz darauf. Darum plädierte ich für eine Änderung der überstürzten Abzüge. Und ein weiteres Anliegen war es mir, die Menschenrechte in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDGs) zu verankern, die in den Millenniums-Entwicklungszielen (MDGs) nicht auftauchten: „Leave No One Behind“, „Do No Harm“ – all das sind verankerte Menschenrechtsbotschaften.
Im Lauf Ihrer Karriere hatten Sie vielfach mit Gräueltaten, Völkermord und Menschenrechtsverletzungen zu tun. Wie haben Sie sich Ihren Optimismus bewahrt?
Obwohl ich über die Jahre viele Menschen getroffen habe, denen Schreckliches widerfahren ist, bleibe ich Optimistin. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die wie ich Gewalt und Diskriminierung erfahren haben, auch etwas Positives daraus schöpfen können. Meine Lebenserfahrung unter der Apartheid hat mich darin geschult, Unrecht zu erkennen und meinen Werten treu zu bleiben. Ungerechtigkeit kann nur dann überwunden werden, wenn man sich gegen sie ausspricht und handelt.
Dr. Navanethem „Navi“ Pillay, 1941 im südafrikanischen Durban geboren, war Richterin am ICC und Hohe Kommissarin der UN für Menschenrechte.
Das Interview führte Gundula Haage.