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Die Verstädterung der Welt

Die Weltbevölkerung wächst, vor allem in den Städten. Welche Probleme und Chancen entstehen durch die rasante Urbanisierung? Maimunah Sharif, Untergeneralsekretärin und Exekutivdirektorin von UN-Habitat, sagt: Ein besseres Leben für alle ist möglich. Ein Gespräch.

Foto der Videoübertragung von Mainmunah Sharif bei ihrer Rede am Kongress für Stadtentwicklungspolitik in Berlin: Eine Frau mittleren Alterns mit Brille, gelbem Kopftuch und in blauem Kleid, vor rotem Hintergrund. Ihr Name ist eineblendet, ihr Blick ist gesenkt, sie list ihre Rede.
Maimunah Sharif bei ihrer Rede am Berliner Kongress für Stadtentwicklungspolitik. (Foto: Shipra Narang Suri)

DGVN: Frau Sharif, Sie sind Untergeneralsekretärin und Exekutivdirektorin von UN-Habitat. Das Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen gibt es seit 45 Jahren. Was sind die Aufgaben der Organisation?

Maimunah Mohd Sharif: Wenn man von Städten und menschlichen Siedlungen spricht, geht es nicht nur um die Großstädte, sondern auch um kleine Siedlungen in ländlichen Gebieten. Es geht also um das gesamte menschliche Ökosystem auf der Erde. Unser Auftrag ist es, sozial und ökologisch nachhaltige Städte und Gemeinden zu fördern. Seit unserer Gründung im Jahr 1976 ist unsere Vision die Förderung einer besseren Lebensqualität für alle in der urbanisierten Welt.

Warum ist der Fokus auf Städte so wichtig?

Städte bedecken zwar nur zwei Prozent der Erde, aber verbrauchen 70 Prozent der Energie. Auch 70 Prozent der weltweiten Kohlenstoffemissionen werden in Städten ausgestoßen. Und bis 2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Sie sehen also, dass die Prioritäten und das Mandat, aber auch die Herausforderungen, seit der Gründung vor 45 Jahren aufgrund der Dynamik der Verstädterung gewachsen sind. Die Verstädterung des Planeten ist unaufhaltsam. Manche sind ja der Meinung, dass Städte immer negativ sind, wegen des hohen Energiebedarfs und der Umweltverschmutzung, aber es gibt auch positive Aspekte der Urbanisierung, wenn sie gut geplant und gesteuert wird. Dann kann die Verstädterung uns sogar helfen, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.

Im Jahr 2007 lebten zum ersten Mal in der Geschichte die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Bis Mitte des Jahrhunderts könnten es, wie Sie erwähnt haben, zwei Drittel oder mehr sein. Man könnte die Gegenwart das Zeitalter der Städte nennen. Welche Herausforderungen bringt das mit sich?

Für uns alle, nicht nur für UN-Habitat, bedeutet dies die Notwendigkeit eines integrierten Ansatzes, einer Multi-Level-Governance von der globalen Ebene über die regionale und nationale Ebene bis hin zu den Gemeinden. COVID-19 hat uns zum Beispiel die Ungleichheit innerhalb und zwischen Städten und Regionen vor Augen geführt. Es ist wichtig, die Urbanisierung in den Mittelpunkt der aktuellen Diskussion zu stellen. Und UN-Habitat hat die Kompetenz, alle relevanten Akteure zu diesen Themen zu versammeln: UN-Organisationen, die Staaten und Städte, aber auch den privaten Sektor, die Wissenschaft, Frauengruppen, Menschen mit Behinderungen oder Jugendverbände. Das macht UN-Habitat einzigartig. Derzeit befassen wir uns vor allem mit vier Bereichen. Einer ist bezahlbarer Wohnraum. Das Thema Wohnen ist mit der Grundversorgung verknüpft: Wasser, Strom, Arbeit, Gesundheit.

Und was sind die drei anderen Bereiche?

Die zweite Priorität ist der Klimawandel. Wir müssen urbane Lösungsansätze für die Anpassung daran beziehungsweise seine Abschwächung finden. Wie können wir Städte als Talent-, Kreativ- und Innovationszentren optimieren, um urbane Lösungen für den Klimawandel zu finden?

Der dritte Punkt ist die Lokalisierung der Ziele für nachhaltige Entwicklung. Wir haben die Strategie, aber wir müssen die Ziele auch in die Praxis umsetzen und vor Ort verwirklichen.

Unser vierter Schwerpunkt dreht sich um urbane Krisen und Konflikte und ihre Auswirkungen auf Städte. Ein Beispiel dafür sind Naturkatastrophen, wie die riesigen Überschwemmungen in Pakistan. Aber auch von Menschen verursachte Konflikte spielen eine Rolle, wie derzeit der Krieg in der Ukraine.

Nachhaltigkeitsziel 11 der Agenda 2030 hält fest, Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten. Werden wir SDG 11 bis 2030 erreichen?

Wir haben vor Kurzem den World Cities Report vorgestellt, aus dem hervorgeht, dass seit 2020 etwa 93 Millionen Menschen in extreme Armut zurückgedrängt wurden, vor allem aufgrund von COVID-19, und weitere 161 Millionen Menschen von chronischem Hunger betroffen sind. Jahrelange Fortschritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen Urbanisierung wurden zunichte gemacht. Insgesamt liegen wir bei den SDGs weit zurück, einschließlich SDG 11. Uns bleibt nicht viel Zeit, um diese Ziele zu erreichen – genau gesagt nur noch 87 Monate, 380 Wochen und rund 2.600 Tage.

Aber ich bin Optimistin. Wir können die Transformation immer noch erreichen, wenn wir uns zum einen auf eine mutige Führung konzentrieren. Denn selbst mit finanziellen Mitteln wird es sehr schwierig sein, wenn es keine visionären Führungspersönlichkeiten vor Ort gibt. Geld allein reicht nicht.

Sie sagen, Sie sind optimistisch. Wo sehen Sie positive Beispiele?

Ja, ich glaube, dass wir die Dinge zum Besseren wenden können. Was UN-Habitat betrifft, so können wir die Instrumente und den Rahmen bereitstellen, die etwa für die SDG-Agenda und die New Urban Agenda erforderlich sind. Was wir jetzt brauchen, ist ein Aktionsplan, um sie in die Realität umzusetzen, denn die Agenda 2030 ist nur das Wie. Wenn Sie über Führung sprechen, haben wir beispielsweise im asiatisch-pazifischen Raum die Mayors Academy gegründet. Wir arbeiten mit Singapur für das Centre for Liveable Cities  zusammen, um Führungspersonen aus Afrika zu schulen. Der Katalog unserer Angebote, der alle Informationen für Staaten oder Städte über unserer Hilfsangebote enthält, umfasst 72 bewährte Programme, die vor Ort eine positive Wirkung haben.

Ich möchte Sie noch auf die bevorstehende UN-Klimakonferenz COP27 in Sharm El-Sheikh hinweisen. Wir versuchen schon seit geraumer Zeit, Klimawandel, nachhaltige Urbanisierung und Entwicklung miteinander zu verbinden. Ich freue mich sehr, dass wir auf der COP27 zum ersten Mal überhaupt ein Treffen der Wohnungsbauministerinnen und -minister abhalten werden, auf dem wir über Städte und nachhaltige Entwicklung in Verbindung mit dem Klimawandel diskutieren.

Als Exekutivdirektorin von UN-Habitat reisen Sie viel und besuchen die unterschiedlichsten Städte. Haben Sie eine Lieblingsstadt?

(Lacht) Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich komme aus Penang, natürlich liebe ich meine Heimatstadt, in der ich auch sieben Jahre Bürgermeisterin war. Abgesehen davon bin ich gerade aus Wien zurückgekommen, einer Stadt, die meiner Meinung nach sehr lebenswert ist und dieses Jahr den Lee Kuan Yew Award gewonnen hat. In Afrika liebe ich Nairobi, was das Grün betrifft und Kigali, was die Sauberkeit angeht. Ich finde, Kigali ist eine sehr gut verwaltete Stadt.

Das Interview führte Timon Mürer. Er traf Maimunah Sharif am 15.9.2022 am Rand des Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik in Berlin.


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