Libyens Einheitsregierung: Ein zukunftsfähiger Durchbruch?
Im Februar 2021 wählte das Libysche Politische Dialogforum (LPDF) einen Premierminister und Präsidialrat zur ersten legalen Einheitsregierung seit der politischen Spaltung des Landes. Sie ist damit beauftragt, das Land anhand eines in UN-geleiteten Verhandlungen erarbeiteten Strategieplans zu Wahlen am 24. Dezember 2021 zu führen.
Nach den letzten Wahlen im Jahr 2012 hatte Uneinigkeit über die Führungsverantwortung für die militärischen Einheiten zur politischen Spaltung des Landes im Jahr 2014 geführt: Zwischen der von der UN anerkannten Regierung Fayez al-Sarrajs im Westen und seinem Konkurrenten, General Khalifa Haftar, im Osten. Internationale Verhandlungsversuche waren immer wieder gescheitert und wurden von militärischen Auseinandersetzungen untergraben.
Die Perspektive durch einen militärischen Sieg die Kontrolle über das gesamte Land zu gewinnen, sorgte gerade bei Haftar dafür, in Verhandlungsrunden nicht kompromissbereit zu sein. Diese festgefahrene Situation wandelte sich, als im Juni 2020 eine militärische Pattsituation entstand, die UN-geleiteten Verhandlungen Aufwind gab. In sogenannten Multi-Track-Verhandlungen, die auf der Berliner Libyen Konferenz im Januar 2020 ins Leben gerufen wurden, tagen parallel Vertreterinnen und Vertreter beider Seiten auf politischer, militärischer und wirtschaftlicher Ebene. Diese Runden wurden nun anstelle von militärischen Offensiven als Weg wahrgenommen, möglichst hohen Gewinn für die eigene Seite zu erzielen. Im Oktober 2020 schlossen beide Regierungen einen Waffenstillstand, der gegen Erwartung der internationalen Gemeinschaft anhielt.
Einheit ohne Einigkeit
Im Libyschen Politischen Dialogforum (LPDF) brachte die UN 75 Delegierte zusammen, die zum Großteil aus den beiden konkurrierenden Regierungen kamen, ergänzt durch Repräsentantinnen und Repräsentanten spezifischer Minderheiten und Regionen. Am 5. Februar 2021 wählte das Forum Abdulhamid Dbeiba zum neuen Premierminister sowie einen Präsidialrat, in welchem die Regionen Ost, West und Süd vertreten sind. Bemerkenswerterweise erkannten sowohl Haftar als auch Sarraj, der zeremoniell in Tripolis die Regierungsverantwortung übergab, die neue Einheitsregierung an.
Nach Wochen der Verhandlungen in Genf überraschte die Bildung dieser Einheitsregierung, da sich die Konfliktparteien politisch nicht signifikant angenähert hatten. So basiert die Zustimmung zur Bildung einer Einheitsregierung sowie zum neuen Premier Dbeiba nicht auf einer geteilten politischen Vision, sondern auf klientilistischen Interessen. Nach der politischen Spaltung des Landes hatte die UN begonnen, die durch Ölexport gemachten Gewinne – die Haupteinnahmequelle Libyens – einzufrieren. Nun sollen diese Gewinne wieder zugänglich gemacht werden. Der Wissenschaftler Wolfram Lacher schätzt die Situation folgendermaßen ein: „Die Akteure haben sich lediglich darauf geeinigt, innerhalb der Regierung um den Zugang zu staatlichen Mitteln zu konkurrieren.“
Noch nicht stattgefunden haben bisher jedoch Gespräche über die politische Zukunft des Landes. Entscheidende Fragen sind offen und könnten zu Zerreißproben werden. Zentral ist dabei die Zukunft der bewaffneten Truppen: Die unterschiedlichen Milizen innerhalb Libyens waren weitestgehend nicht in den Prozess des LPDF eingebunden. So ist auch fraglich, inwiefern die neue Einheitsregierung die Möglichkeit hat, Kontrolle über die militärische Situation im Land zu gewinnen. Es erscheint zudem unrealistisch, dass Haftar bereit sein wird, seine Truppen einer einheitlichen Kommandostruktur unterzuordnen. Bisher ist auch die Leitung des Verteidigungsministeriums unbesetzt, da Dbeiba noch „nicht die richtige Person“ gefunden habe.
Wahlen sind nur ein Zwischenziel
Das Mandat der Einheitsregierung sieht vor, dass sie am 24. Dezember 2021 – dem libyschen Unabhängigkeitstag – Wahlen stattfinden lassen soll. Somit besteht ihre Aufgabe spezifisch nicht im Aufbau eines Staatsapparats, sondern in der Organisation des Übergangs sowie der Grundversorgung der Bevölkerung.
Auf kommunaler Ebene fanden 2021 bereits Wahlen statt, was dafür spricht, dass es bereits für Wahlen notwendige Kompetenzen gibt. Elham Saudi, Direktorin von Lawyers for Justice in Libya, hebt jedoch hervor, dass Wahlen in sich nicht das Ziel sein dürfen, sondern eine legitime Regierung. Eine solche könne nur durch freie und faire Wahlen erreicht werden. Besonders im von Haftar kontrollierten Osten des Landes, in dem Dissidenten weiterhin verfolgt werden, könne dies laut Elham Saudi schwierig werden. Den Appell, dass Wahlen nicht als Selbstzweck angesehen werden dürfen, richtet sie auch an die internationale Gemeinschaft und die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL).
Unklar ist bisher noch, was genau gewählt werden soll: Eine Verfassungsabstimmung, Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen. Die Entscheidung hierüber bestimmt unter anderem, ob Libyen in Zukunft ein parlamentarisches oder präsidiales System haben wird. Expertinnen und Experten raten dazu, dass das Abgeordnetenhaus diese Entscheidung treffen sollte.
Die Mitglieder der momentanen Einheitsregierung dürfen bei den Wahlen nicht mehr kandidieren. Das war ein entscheidender Faktor, der zu ihrer Auswahl beigetragen hatte: Viele Stimmen gewannen sie unter der Bedingung ihres befristeten Mandats. Doch damit haben diejenigen, deren Aufgabe die Durchführung der Wahlen ist, wenig Anreiz, diese bald stattfinden zu lassen, da sie ihren „politischen Selbstmord“ darstellen würden. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass es zu Protesten und potentiell einer erneuten politischen Spaltung kommen wird, sollten die Wahlen nicht im Dezember oder bald danach stattfinden.
Der hoffnungsvollste Moment seit 10 Jahren
Die Einheitsregierung genießt mit 70 Prozent Zustimmung außerordentliche Unterstützung der libyschen Bevölkerung, welche erneut den großen Erfolg dieser Einigung hervorhebt. Vielversprechend ist auch die geschlossene Unterstützung vorher konkurrierender internationaler Akteure, die in einem gemeinsamen Statement des UN-Sicherheitsrat im Februar ausgedrückt wurde. Außerdem wurde bereits ein gemeinsames libysches Budget formuliert, das dem Parlament im August zur Bestätigung vorgelegt wurde.
Sollte es der Regierung tatsächlich gelingen, die dringlichsten Herausforderungen – Wahlen, militärische Struktur und Grundversorgung – zu bewältigen, steht einem friedlichen Libyen dennoch ein weiter Weg bevor: Viel Macht liegt momentan in den Händen alter Eliten, deren Verbrechen während des Krieges oder der Gaddafi-Ära bisher unter den Teppich gekehrt werden. Es wird ein umfassender Transitional Justice Prozess stattfinden müssen, in dem von vorherigen Regimen sowie Kriegsparteien begangenes Unrecht aufgearbeitet und geahndet wird. Darauf basierend kann ein Übergang zu Frieden, gesellschaftlichem Zusammenhalt und politischer Legitimität ermöglicht werden. Auch hier wird die UN-Mission in Libyen mit ihrer Kompetenz mitwirken und auf die Notwendigkeit der nachhaltigen Aufarbeitung pochen müssen.
Tonja Klausmann
Weitere Informationen:
Der Konflikt in Libyen und die UN
Ein politischer Frieden in Libyen - Mission Impossible?