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Lieferketten in der Krise: Der Textilsektor in Bangladesch

Die hohe Abhängigkeit von ausländischen Märkten hat die Textilbranche in Niedriglohnländern in der Coronakrise schwer getroffen. Als in Europa Bekleidungsgeschäfte und Kaufhäuser geschlossen blieben, waren in Bangladesch über zwei Millionen Menschen ohne Arbeit.

Eine Textilarbeiterin mit pinker Gesichtsmaske in Bangladesch bei der Arbeit.
Eine Textilarbeiterin in Bangladesch bei der Arbeit.

(Foto: Marcel Crozet / ILO/flickr/ CC BY-NC-ND 2.0/Bangladesh 41)

Mehr als vier Millionen Menschen arbeiteten vor der Coronakrise in den über 4.000 Textilfabriken in Bangladesch. Sie produzierten Konfektionskleidung im Wert von mehr als 27 Milliarden Euro pro Jahr, die über 80 Prozent der Exporte ausmachten. Ende März war es damit erst einmal vorbei.

Denn gerade wichtige Absatzmärkte für Kleidung „Made in Bangladesh“ waren (und sind) von der Coronakrise besonders betroffen. Die USA haben einen Anteil von ca. 16,9 Prozent an den Textilexporten aus Bangladesch, Deutschland 15,2 Prozent, Großbritannien 10,2 Prozent, Spanien 6,3 Prozent. Als die Nachfrage einbrach, stornierten viele Importeure ihre Bestellungen oder schoben sie auf.

Für Bangladesch bedeutet dies entgangene Umsätze in Milliardenhöhe. Auch bereits vor der Corona-Pandemie versandte Waren wurden zum Teil nicht bezahlt. Vorauszahlungen sind in der Branche nicht üblich, so dass das gesamte Risiko bei den Herstellern liegt. Ein großer Teil sind kleine und mittelständische Betriebe, die nicht in der Lage sind, unter solchen Bedingungen Arbeitsplätze zu erhalten oder ihre Angestellten zu bezahlen. Viele Fabriken wurden geschlossen, die Beschäftigten nach Hause geschickt. Nicht wenige gingen in ihre Heimatdörfer zurück, was zu zusätzlichen, unter Corona-Bedingungen kontraproduktiven Reiseaktivitäten führte. Als ein Teil der Fabriken wieder geöffnet wurde, kehrten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an die Produktionsstätten zurück.

Der Textilsektor war vom „Lockdown“ im April ausgenommen, es musste jedoch den Hygieneregeln Folge geleistet werden. Einige Produktionsstätten gingen dazu über, Mund- und Nasenschutzmasken zu fertigen. Die Beschäftigen sind auf ihr Einkommen angewiesen, dadurch aber der Gefahr ausgesetzt, sich und ihre Familien mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu infizieren. Mit bislang über 110.000 erfassten Infektionen und davon rund 25.000 in den vergangenen sieben Tagen (Stand 22.6.2020) gehört Bangladesch derzeit zu den besonders von der Pandemie betroffenen Ländern Asiens.
 

Beurlaubungen, Lohnkürzungen, Entlassungen

Etwa 61 Prozent der Beschäftigten in der Herstellung von Konfektionskleidung in Bangladesch sind Frauen. Der Textilsektor leistet einen erheblichen Beitrag zu mehr Gleichberechtigung in Bangladesch, denn er eröffnet Frauen Wege in die Berufstätigkeit. Viele Haushalte sind auf ihre Arbeit als einzige verlässliche Einkommensquelle angewiesen. Aufgrund der sehr niedrigen Löhne in der Branche haben sie aber kaum Ersparnisse, viele Betriebe keine ausreichend hohen Rücklagen. So mussten Beschäftigte Lohnkürzungen in Kauf nehmen oder riskierten Entlassungen.

Während der Staat Hilfszahlungen leistet, Lebensmittelhilfen verteilt und mit Steuererleichterungen und Krediten (die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen) versucht, die Textilbranche zu stützen, üben Importeure aus den Absatzländern noch stärkeren Druck auf die Herstellerpreise aus als ohnehin schon vor der Krise. Indem westliche Konzerne ihre Verluste auf die Schwächsten in den Lieferketten abwälzen, verschärfen sie die Armut in Bangladesch.

„Es gibt mehr als eine Kurve, die wir abflachen müssen. Denn nicht nur die Zahl der Corona-Infizierten steigt, sondern auch die Armut und die Arbeitslosigkeit“, sagt Nafisa Ismail, Dozentin für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der BRAC University in Dhaka. Die Schwächsten in der Gesellschaft seien aber diejenigen, die im informellen Sektor auf der Straße arbeiten, nicht die Beschäftigten in den Textilfabriken. Nach Schätzungen der nationalen Statistikbehörde sind im informellen Sektor in Bangladesch mehr als 50 Millionen Menschen beschäftigt.
 

Drohende Rückschläge für die menschliche Entwicklung

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF warnen in Folge der Krise vor einem dramatischen Anstieg der Kinderarbeit. Es bestehe die Gefahr, dass Kinder, die derzeit nicht zur Schule gehen und stattdessen zum Lebensunterhalt der Familien beitragen müssen, auch in Zukunft nicht mehr in die Schulen zurückkehren werden. Sie laufen Gefahr, zu Niedriglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen im Textilsektor und anderen Branchen ausgebeutet zu werden.

Die Vereinten Nationen sehen die COVID-19-Pandemie als “die größte Prüfung seit Gründung der Vereinten Nationen“. Viele Länder, auch Bangladesch, haben in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung gemacht. Mit einem Index-Wert der menschlichen Entwicklung von 0,614 (2018) zählt Bangladesch inzwischen zu den Ländern mit mittlerer menschlicher Entwicklung. Es rangierte im Bericht über die menschliche Entwicklung (HDR) 2019 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) auf Platz 135, nur wenige Plätze hinter Indien (Rang 129). Wenige Jahre zuvor war Bangladesch noch ein Land mit niedriger menschlicher Entwicklung und lag z. B. im HDR 2013 mit einem Wert von 0,515 noch auf Rang 146.

In einem neuen Bericht zu COVID-19 und menschlicher Entwicklung betont UNDP, dass die indirekten Auswirkungen der Krise noch gravierender sein könnten als die direkten gesundheitlichen Probleme. Viele der Entwicklungsfortschritte der vergangenen Jahre könnten durch die Corona-Krise zunichte gemacht werden. Doch statt einer reinen Stimulation der Nachfrage, wie sie in Wirtschaftskrisen üblich sei, plädiert UNDP dafür, vor allem der zunehmenden Ungleichheit entgegenzuwirken.
 

Lieferkettengesetz

Das bedeutet auch, dass die Kosten der Krise nicht auf die Schwächsten abgewälzt werden dürfen. Um die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, einschließlich der Zulieferer im Ausland (im Textilsektor auch der Hersteller von Stoffen, Knöpfen, Reißverschlüssen oder Verpackungsmaterial), festzuschreiben, war für diese Legislaturperiode in Deutschland die Verabschiedung eines Lieferkettengesetzes geplant. Das droht nun der Krise zum Opfer zu fallen, in einer Zeit, wo es ganz besonderes Augenmerk für die Folgen unternehmerischen Handelns braucht. Das zivilgesellschaftliche Bündnis „Initiative Lieferkettengesetz“ beklagt, Unternehmensverbände würden versuchen, die Coronakrise zur Verhinderung des Gesetzes zu instrumentalisieren.

Für Bangladesch und andere Niedriglohnländer heißt das, dass die Situation der Beschäftigten prekär bleiben wird. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme, mit denen Unternehmen und die Bevölkerung in den Absatzländern zu kämpfen haben, ist es unwahrscheinlich, dass die globale Nachfrage rasch wieder anziehen wird. Die Krise ist noch lange nicht ausgestanden.
 

Christina Kamp

 

Weitere Informationen:

Beiträge von Teilnehmenden der DGVN Journalistenreise 2019

COVID-19 and Child Labour: A time of crisis, a time to act. UNICEF/ILO, Juni 2020

COVID-19 and Human Development: Assessing the Crisis, Envisioning the Recovery. Human Development Perspectives. United Nations Development Programme (UNDP), New York, 2020.

COVID-19 and the textiles, clothing, leather and footwear industries. International Labour Organization (ILO), Sectoral Brief. 8. April 2020

Globale Lieferketten in der Corona-Krise: Menschenrechte auf dem Abstellgleis? Briefing der Initiative Lieferkettengesetz, Juni 2020


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