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„Partnerschaftsgewalt liegt nicht am Fußball oder am Alkohol, sondern an gewalttätigen Männern“

Die Fußball-EM ist für viele vor allem ein Anlass, den Sport und das Zusammenkommen zu feiern. Doch gleichzeitig nimmt bei großen Fußballturnieren auch partnerschaftliche Gewalt gegen Frauen zu. Woran liegt das? Ein Interview mit Elke Ferner, Vorstandsvorsitzende von UN Women Deutschland.

Bildausschnitt eines Beines mit Stollenschuh, der einen Fußball tritt.
Fußballspiel anlässlich des Internationalen Tag des Friedens am 21. September (UN Photo/Jean Marc Ferré)

Nicht nur für Hardcore-Fußballfans ist die Fußball-Europameisterschaft der Männer ein sommerliches Großereignis. Für die Behörden ist die EM hingegen eine sicherheitspolitische Herausforderung. Doch nicht nur im öffentlichen Raum stellen gewalttätige Übergriffe eine Bedrohung dar. UN Women Deutschland warnte bereits vor Beginn der EM 2024, dass partnerschaftliche Gewalt gegen Frauen bei großen Fußballturnieren erwiesenermaßen ansteigt. Woran liegt das?

Wir wissen durch Studien aus England, dass während der Fußball-Weltmeisterschaften der Männer 2002, 2006 und 2010 Partnerschaftsgewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen zunahm. Bei einem Sieg des englischen Nationalteams stieg die Zahl der gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt um 26 Prozent, bei einer Niederlage um 38 Prozent. Die Autorinnen und Autoren der Studien gehen davon aus, dass der erhöhte Alkoholkonsum während der Fußballspiele zur ansteigenden Gewalt führt. Für uns ist klar: Partnerschaftsgewalt liegt nicht am Fußball oder am Alkohol, sondern an gewalttätigen Männern, Machtungleichgewicht beziehungsweise Machtmissbrauch und Frauenfeindlichkeit. Alkohol kann zusätzlich enthemmen, aber die Gewalt in Partnerschaften entsteht durch patriarchale Strukturen und gewaltbereite Männer.

Wie setzen sich UN Women und insbesondere UN Women Deutschland für die Beendigung von häuslicher Gewalt gegen Frauen ein?

UN Women Deutschland fordert von der Bundesregierung eine gesamtpolitische Strategie zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Dazu gehören die schnelle Verabschiedung und Umsetzung des geplanten Gewalthilfegesetzes einschließlich der bedarfsgerechten Finanzierung. Hier sind Bund und Länder gefordert. Um geschlechtsspezifische Gewalt nachhaltig zu beenden und um Frauen und Mädchen in all ihrer Vielfalt zu stärken, braucht es außerdem Gleichstellung auf allen Ebenen und in allen Gesellschaftsbereichen. Wir setzen uns für Gewaltprävention ab dem Kindesalter und den Abbau von sexistischen Stereotypen in der Öffentlichkeit ein. Mit unserer jährlichen „Orange the World“-Kampagne ab Ende November machen wir öffentlichkeitswirksam auf das bestehende – und wachsende – Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt aufmerksam und verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, das gesamtgesellschaftliche Lösungen braucht. Jede und jeder kann einen Beitrag zur Beendigung der Gewalt leisten, indem zum Beispiel sexistische Sprüche angeprangert, Gewalt nicht verharmlost und gewaltbetroffenen Frauen geglaubt wird.

UN Women arbeitet weltweit daran, die Gleichstellung der Geschlechter voranzubringen und geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden. Unter anderem unterstützt UN Women Regierungen dabei, diskriminierende Gesetze abzuschaffen und Gesetze zum Schutz von Frauen und Mädchen zu erlassen und umzusetzen. Mit der Zivilgesellschaft setzt UN Women Projekte zur Gewaltprävention um, auch in Zusammenarbeit mit Männern und Jungen, und bietet gewaltbetroffenen Frauen Schutz und Hilfe.

Inwiefern haben die Vereinten Nationen insgesamt häusliche Gewalt gegen Frauen auf ihrer Agenda?

Geschlechtsspezifische Gewalt begründet sich nicht nur in mangelnder Gleichstellung, sondern ist auch eines der größten Hindernisse für die Gleichstellung der Geschlechter. Die UN erkennen an, dass geschlechtsspezifische Gewalt Frauen in allen Phasen ihres Lebens trifft und weitreichende Folge für ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Teilhabe hat. Partnerschaftsgewalt ist die häufigste Form geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Vereinten Nationen erkennen mit der Agenda 2030 und den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung an, dass die Gleichstellung der Geschlechter und die Beendigung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen grundlegende Voraussetzungen für eine nachhaltige, gerechte und zukunftsfähige Welt sind.

Leider gibt es immer noch Lücken im Hilfesystem. Aber es fehlt auch in Deutschland an einer politischen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ist noch nicht vollständig umgesetzt. Es fehlen Plätze in Frauenhäusern, sogenannte Second Stage-Angebote und eine einheitliche Finanzierung. So müssen gewaltbetroffene Frauen, die es schaffen, sich aus der Gewaltsituation zu befreien, häufig abgewiesen werden und in die Gewaltsituation zurückkehren. Gewaltbetroffene Frauen sehen sich oft erheblichen Hürden gegenüber, wenn sie die Täter anzeigen wollen, da es bei Polizei und Justiz immer noch an Sensibilisierung zum Umgang mit Partnerschaftsgewalt fehlt. 

Die Gerichtsverfahren selbst stellen eine große Belastung dar, da sie von Täter-Opfer-Umkehr (auch engl. Victim Blaming) geprägt sind, oft retraumatisieren und nur selten zur Verurteilung des Täters führen. Kommt es zu einer Verurteilung, fällt das Strafmaß meist gering aus: Gewaltdelikte im häuslichen Bereich, dem sogenannten sozialen Nahraum, werden in Deutschland meist deutlich geringer bestraft als dieselben Delikte im öffentlichen Raum, da der Kontext einer Beziehung strafmildernd anstatt strafverschärfend wirkt. Auch behalten Täter häufig das Sorgerecht für gemeinsame Kinder, was die Betroffenen weiterhin zu regelmäßigem Kontakt zwingt und unter Umständen lebensbedrohlich für die gewaltbedrohte Frau sein kann. Wir fordern eine angemessene Ahndung geschlechtsspezifischer Gewalt und die Anwendung entsprechender Übereinkommen wie der Istanbul-Konvention. Damit der Zugang zum Hilfesystem für alle Opfer sichergestellt ist, brauchen wir dringend einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe gegen geschlechtsspezifische Gewalt und eine ausreichende Finanzierung für Schutz- und Hilfsangebote. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache, sondern ein strukturelles Problem, das die gesamte Gesellschaft trifft.

Im Jahr 2023 waren laut Bundeskriminalamt 256 276 Menschen in Deutschland von häuslicher Gewalt betroffen, ein Anstieg von 6,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Gibt es Erklärungen dafür, dass häusliche Gewalt offenbar zunimmt?

Ein Teil des Anstiegs lässt sich damit begründen, dass mehr Taten zur Anzeige gebracht wurden und vom Dunkel- ins Hellfeld verschoben wurden. Allerdings zeigt die steigende Anzahl der von ihrem Partner oder ehemaligen Partner getöteten Frauen, dass die Zunahme der Gewalt eine Tatsache ist. Wir haben keine Evidenz, warum Partnerschaftsgewalt in Deutschland weiter zunimmt. Eine Theorie lautet, dass Gewalt gegen Frauen bei voranschreitender Gleichstellung steigen kann – das wird auch „feministisches Paradox“ genannt. Wir erleben einen Backlash gegen die Gleichstellung der Geschlechter, der sich in Antifeminismus, Frauenfeindlichkeit und Gewalt äußert. Nicht nur im Internet, auch im Privaten wächst eine reaktionäre Bewegung gegen Frauenrechte und Gleichstellung, die sich in Partnerschaftsgewalt äußern kann. Besonders deutlich zeigt sich das in den skandinavischen Ländern: Einerseits nehmen sie bei der Gleichstellung eine Vorreiterrolle ein, andererseits ist die Gewalt gegen Frauen innerhalb von Partnerschaften und in der Öffentlichkeit besonders hoch. 

Zudem verschärft sich Partnerschaftsgewalt häufig dann, wenn die Frau wirtschaftlich unabhängiger wird, berufliche Erfolge feiert oder mehr verdient als ihr Partner. Partnerschaftsgewalt scheint vor allem dann zu eskalieren, wenn eine Frau sich trennt oder eine Trennungsabsicht äußert – in diesen Situationen finden auch die meisten Tötungen statt, sogenannte „Trennungsfemizide“. Partnerschaftsgewalt ist in einem  Machtgefälle begründet und in einem Besitzanspruch des Mannes gegenüber seiner Partnerin. Wird dieser Besitzanspruch gefährdet, kann Partnerschaftsgewalt zunehmen oder eskalieren.

Die Fragen stellten Lea Schaefer und Sophie Humer-Hager.


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