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Debatte: 50-jährige deutsche Mitgliedschaft in den UN – Menschenwürde zwischen Hoffnung und Verpflichtung

Für Deutschland ist der im Grundgesetz verankerte Würdeartikel bis heute Richtschnur des außenpolitischen Handelns in den UN. Sie schafft Hoffnung für den Einzelnen – und ist Verpflichtung, an der Deutschland seine künftige UN-Politik ausrichten sollte.

Zeremonie zum Hissen der Flaggen der BRD, der DDR und der Bahamas am 19. September 1973.
Zeremonie zum Hissen der Flaggen der BRD, der DDR und der Bahamas am 19. September 1973. (UN Photo/Yukata Nagata)

„Verstehen Sie, warum wir zögerten, den Schritt in die Vereinten Nationen zu tun? Es ist schmerzlich, der politischen Realität der Teilung des eigenen Landes ins Auge zu sehen. Wir befürchteten, ein solcher Schritt könnte den Eindruck erwecken, als resignierten wir. Als hätten wir die Hoffnung auf Einheit aufgegeben.“

Als Bundesaußenminister Walter Scheel am 19. September 1973 seine Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York hielt, waren tags zuvor die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) den Vereinten Nationen beigetreten. Eine Dichotomie von Resignation und Hoffnung prägte den Beitritt der zwei deutschen Staaten, denn die weltanschaulichen Differenzen zwischen der BRD und der DDR waren auch Ausdruck antagonistischer Bündnissysteme auf der weltpolitischen Bühne.

Die ideologischen Differenzen schienen unüberbrückbar. Dennoch führte die Aussicht auf die doppelte Integration in die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen zu einer Neujustierung der Beziehung zwischen BRD und Sowjetunion im Jahr 1970 und der Neuausrichtung der deutsch-deutschen Beziehungen im Grundlagenvertrag, der im Juni 1973 in Kraft trat.

Die Gräuel des Nationalsozialismus als Anlass und Gegenbild für die UN

Die Gleichzeitigkeit von Resignation und Hoffnung markierte bereits den Beginn der Vereinten Nationen fast 30 Jahre zuvor. Die Gründung der UN fiel mit der „tiefsten Zäsur“ in der deutschen Geschichte zusammen, wie Willy Brandt am 26. September 1973, eine Woche nach Scheel bei der ersten Rede eines deutschen Bundeskanzlers vor dem Plenum der Generalversammlung festhielt. Moralische Gewissheiten waren in ihrem Fundament erschüttert, Werte mussten neu definiert werden. Der Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus war daher 1945 zum Grund und Anlass für das Universalitätsprojekt der UN als „Weltorganisation“ geworden. Im Schatten der Erfahrungen zweier Weltkriege und den Gräueln des Nationalsozialismus suchten die Vereinten Nationen, aber auch die junge Bundesrepublik, nach Antworten, um den Verbrechen gegen die Menschlichkeit einen unumstößlichen – und unantastbaren – Wert entgegenzusetzen: die Menschenwürde. Die UN-Charta (1945) platziert die Würde und den Wert des Menschen fortan als Leitbegriffe in ihrer Präambel: in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) ist der Würdebegriff in Folge bereits systematisch mit Rechten verknüpft. Ein Jahr später wird die Menschenwürde im Grundgesetz (1949) der Bundesrepublik Deutschland als Grundpfeiler und moralisch-rechtlicher Ausgangspunkt der neuen Verfassung verbrieft.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“

„– so heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.“ Außenminister Scheel griff in jener Dankesrede 1973 vor der UN-Generalversammlung den Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes auf und verankerte damit die Menschenwürde als Leitmotiv der BRD auch für ihr außenpolitisches Engagement in den UN: der Mensch sei „Anfang und Ziel jeder rationalen Politik“. Das bedeutete, dass fortan in der bundesrepublikanischen Politik die Interessen staatlicher Akteure hinter den Universalprinzipien, die den Menschen als solchen adressieren, zurücktreten mussten. „Wir werden uns vor jedem Beschluß in allen Gremien der Organisation zuallererst die Frage stellen: Was bedeutet das für den Einzelnen?“

‚Gemeinsam für Menschlichkeit‘

Es ist somit konsequent und folgerichtig, dass das 50. Jubiläum der deutschen Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen in diesem Jahr unter dem Motto ‘Gemeinsam für Menschlichkeit’ steht. Die Idee der Menschlichkeit spiegelt sich in der Achtung vor der Menschenwürde wider. Sie verbietet dem Staat über das Individuum als bloßes Mittel zum Zweck zu verfügen. Es ist dieses Echo von Immanuel Kants kategorischem Imperativ, das in der deutschen UN-Politik heute auch in Gestalt des Multilateralismus sichtbar geworden ist. Der Multilateralismus versteht sich als Methode der gleichberechtigten Zusammenarbeit, der Orientierung an Prinzipien jenseits nationaler Schranken – und der Selbstbeschränkung der Staaten.

 ‚Politik durch Legitimation‘ anstelle einer ‚Politik durch Macht‘ stellt bis heute ungebrochen das außenpolitische Leitbild Deutschlands dar. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den UN sollte vor 50 Jahren das Vertrauen der Weltgemeinschaft zum ehemaligen „Feindstaat“ durch Verlässlichkeit und Engagement, einen moralischen Kompass und das genuine Interesse, globale Probleme jenseits spezifischer nationaler Interessen lösen zu wollen, aufgebaut werden.

Mitverantwortung tragen

Inwiefern hatte sich damit auch der Menschenwürdebegriff zum Regulativ der deutschen UN-Politik entwickelt? Als Leitidee bietet die Menschenwürde nach wie vor den wichtigsten Ausgangspunkt für die wertegeleitete Außenpolitik Deutschlands, weil sie in der Wertrangordnung an oberster Stelle steht. Zwar liefert dieUnantastbarkeit der Würdekeine handlungsleitenden Vorschläge – das bedeutet jedoch nicht, dass der Begriff an Prägnanz verloren hätte.

Willy Brandt beschwor in seiner Rede vor dem Plenum der Generalversammlung die „weltpolitische Mitverantwortung“, mit der sich die Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen aus Überzeugung einbringen werde. Mitverantwortung als genuin multilaterales Konzept darf heute aber nicht zum bloßen Euphemismus, zur Sprachhülse verkommen. Gerade hier fordert der Würdebegriff das das Konzept des Multilateralismus heraus. Als Initiale der UN-Charta, wie auch des Grundgesetzes hat die Menschenwürde keine inhaltliche Instruktionskraft. Aber sie erzeugt die moralische Perspektive, dass von keinem denkbaren Standpunkt aus Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Kauf genommen werden dürfen. Bundespräsident a. D. Horst Köhler betonte zum 70-jährigen Jubiläum der DGVN 2015: Die „größte Bedrohung für universelle Normen“ sei ihrescheinbareAnerkennung. Universelle Werte dürften kein Vorwand sein, mit dem staatliche Zwecke geheiligt werden könnten. Mit „Chuzpe“ rechtfertigten die USA Anfang der 2000er Jahre ihre Folterpolitik. Europa reagierte mit „orientierungslose[r] Gleichgültigkeit“. Die Glaubwürdigkeit als wichtigste Währung der Vereinten Nationen sei damit beschädigt worden.

Die Menschenwürde ist gerade deshalb ein Regulativ für den Multilateralismus in den UN, weil sie den Fokus zurück auf den Menschen führt, als „Anfang und Ziel“ des Universalitätsprojekts der UN. Dieses Prinzip muss über Attributen stehen, die floskelhaft und leidenschaftslos für den deutschen Beitrag zum Multilateralismus herausgestellt werden: „Verlässlichkeit als Partner“, „Berechenbarkeit“ oder das Handeln in der „Erwartungshaltung der Mitstaaten“. Die Menschenwürde im deutschen Grundgesetz erinnert uns daran, dass nicht die Erwartung der Mitstaaten, sondern die der Menschen zählt: Was bedeutet das für den Einzelnen?

Leopoldo Benites aus Ecuador, der Präsident jener Generalversammlung vor 50 Jahren, als die Bundesrepublik Deutschland neben der DDR Mitglied der UN wurde, sah im Beitritt der ehemaligen "Feindstaaten" die Pointe des Multilateralismus. Die „restrictive stage of the organization“ sei nun zu einer „stage of true universality“ geworden.

Widersprüche und Spannungen sind dem Multilateralismus eigen. Sie werden sich nicht restlos auflösen lassen. Die Humanitätsideale der UN aber geben zumindest eine unverrückbare Richtung vor – für den Einzelnen bedeuten sie Hoffnung.

Für Deutschland bleibt der im Grundgesetz verankerte Würdeartikel Richtschnur des außenpolitischen Handelns. Die Menschenwürde ist eine moralische Verpflichtung, an der Deutschland seine künftige UN-Politik leidenschaftlich ausrichten sollte.

Frederick Hauke, Doktorand in deutscher Ideengeschichte, University of Cambridge


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