Staatenlos, schutzlos, rechtlos
Gemäß Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat jeder Mensch ein Recht auf eine Staatsangehörigkeit. Trotzdem gibt es heute auf der Welt schätzungsweise 10 Millionen Staatenlose, ein Drittel davon sind Kinder. Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 definiert in Artikel 1 einen Staatenlosen als „eine Person, die kein Staat auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörigen ansieht.“ Da Staatenlose unter dem Schutz keines nationalen Gesetzes stehen, bleiben ihnen grundlegende Sozialleistungen und politische Rechte verwehrt. Folglich sind Staatenlose Ausbeutung und Diskriminierung ausgesetzt und verstärkt von Armut und Ausgrenzung betroffen. Doch wie kommt es zu Staatenlosigkeit?
Ursachen für Staatenlosigkeit
Die Ursachen für Staatenlosigkeit sind divers. So kann Staatenlosigkeit, wie in der Elfenbeinküste, durch Grenzverschiebung und Gesetzeslücken entstehen. Von den dort etwa 700.000 Menschen ohne Staatsangehörigkeit sind die meisten Kakao- und Kaffeebauern, die noch vor der Unabhängigkeit des Landes überwiegend aus dem heutigen Burkina Faso in die Elfenbeinküste kamen. Von einem nach der Unabhängigkeit eingerichteten, vereinfachten Einbürgerungsprozess wurde kein Gebrauch gemacht. Ab 1973 wurde die ivorische Staatsbürgerschaft dann nur noch nach dem Abstammungsprinzip vergeben, was Einwanderern und ihren Nachkommen über Generationen hinweg den Zugang zu einem ivorischen Pass verwehrte.
Oft führen auch fehlende Dokumente zu Staatenlosigkeit, wenn Kinder bei der Geburt nicht registriert werden oder wenn bürokratische Hürden und Registrierungskosten Menschen daran hindern, formal eine Staatsangehörigkeit zu erlangen. Ehegesetze und Diskriminierung können ebenfalls Gründe für Staatenlosigkeit sein. Im Libanon beispielsweise können Mütter ihre Nationalität nicht an ihre Kinder weitergeben. Werden Kinder ohne Vater geboren, sind sie staatenlos. Auch Kriege und die Neugründung oder der Zerfall von Staaten führen zu Staatenlosigkeit. Zukünftig können Menschen außerdem durch den Klimawandel ihre Staatsangehörigkeit verlieren, wenn Inselstaaten wie Kiribati oder Tuvalu durch steigende Meeresspiegel vollständig verschwinden. Was wird also getan, um Staatenlosen zu helfen und Staatenlosigkeit zu bekämpfen?
Schutz von Staatenlosen
Eine erste Initiative zum Schutz von Staatenlosen wurde 1922 ins Leben gerufen. Der Nansen-Pass, benannt nach seinem Initiator, dem damaligen Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, Fridtjof Nansen, war zwar kein machtvolles Dokument, erlaubte Staatenlosen jedoch zumindest die Rückreise in den Ausstellerstaat. Ein umfassenderes Abkommen zum Schutz der Staatenlosen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ausgearbeitet. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954, das heute 94 Vertragsparteien zählt, garantiert Staatenlosen einen Mindeststandard an rechtlichem und sozialem Schutz und gewährt ihnen einen gewissen Zugang zu Bildung, Recht und Sozialleistungen. Die Konvention stärkt somit die Rechte von Staatenlosen, bekämpft jedoch nicht das Problem der Staatenlosigkeit als solches.
Um gegen Letzteres vorzugehen, sieht das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Verminderung von Staatenlosigkeit aus dem Jahr 1961 Bestimmungen vor, die sich explizit gegen die Entstehung von Staatenlosigkeit richten und die Vergabe der Staatsbürgerschaft in bestimmten Fällen regeln. Gemäß dem Abkommen verleiht „jeder Vertragsstaat in seinem Hoheitsgebiet geborenen Personen, die sonst staatenlos wären, seine Staatsangehörigkeit.“ Die 75 Vertragsstaaten der Konvention verpflichten sich außerdem dazu, einer Person nicht die Staatsangehörigkeit zu entziehen, wenn ihr dadurch die Staatenlosigkeit droht. Das Abkommen zielt also darauf ab, Gesetzeslücken zu schließen und Situationen, die zu Staatenlosigkeit führen, vorzubeugen. Zudem verbietet Artikel 9 der Konvention den Entzug der Staatsangehörigkeit „aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen“. Denn Staatenlosigkeit ist nicht ausschließlich eine Folge unglücklicher Umstände oder widersprüchlicher Gesetze, sondern wird von einigen Regierungen als Instrument genutzt, um bestimmte Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren und zu entrechten.
Instrumentalisierte Staatenlosigkeit
Dies geschah beispielsweise mit den in der Provinz Hasaka im Nordosten Syriens lebenden Kurden: Ihnen wurde 1962 im Rahmen der „Arabisierung“ des Landes die syrische Staatsangehörigkeit entzogen. 120.000 Menschen wurden staatenlos und verloren ihre politischen und bürgerlichen Rechte. Auch in Myanmar, wo etwa zehn Prozent aller Staatenlosen leben, sprach ein Gesetz im Jahr 1982 der muslimischen Minderheit der Rohingya die Staatsangehörigkeit ab. Etwa 800.000 Menschen wurden zu Staatenlosen. Noch heute sind die Rohingya weltweit die größte staatenlose Bevölkerungsgruppe und leiden unter schweren Menschenrechtsverletzungen. Viele von ihnen sind aus Flucht vor Repressionen und Diskriminierung in das benachbarte Bangladesch geflohen, wo sie jedoch bezüglich ihrer Staatenlosigkeit keine Unterstützung erhalten.
Ähnlich verhält es sich mit der ethnischen Minderheit der Roma in Europa. Diskriminierende Politik in der Balkanregion, unüberwindbare Hürden zur Einbürgerung und mangelnde Unterstützung auch von westeuropäischen Staaten, haben zur Folge, dass noch heute zahlreiche der durch den Zerfall Jugoslawiens staatenlos gewordenen Roma keine Staatsangehörigkeit besitzen und unter Menschenrechtsverletzungen, Ausgrenzung und Diskriminierung leiden.
Erste Fortschritte
Es gibt im Kampf gegen die Staatenlosigkeit auch Fortschritte zu verzeichnen. Das Büro des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), unter dessen Mandat die Bekämpfung von Staatenlosigkeit fällt, leitet seit 2014 die #I Belong Kampagne. Das Ziel ist es, bis 2024 die Staatenlosigkeit zu beenden. Im Rahmen der Kampagne verpflichten sich immer mehr Länder, ihre nationalen Gesetze zu überarbeiten und Prozesse zur Identifizierung von Staatenlosen einzuleiten. Die Übereinkommen der Vereinten Nationen und die I-Belong-Kampagne sind somit gute Initiativen zum Schutz von Staatenlosen und zur Bekämpfung der Staatenlosigkeit. Unhinterfragt bleibt die Notwendigkeit von Staatsangehörigkeit, um Rechte geltend zu machen. Aber hat ein Mensch nur Rechte, wenn er einen Pass besitzt? Diese Frage scheint – gemeinsam mit dem Problem der Staatenlosigkeit – noch lange nicht gelöst.
Rebecca Fleming