Stillstand im Westsaharakonflikt: Wie geopolitische Interessen das Völkerrecht blockieren
Seit dem Abzug Spaniens als Kolonialmacht 1976 stehen Marokko und die bewaffnete Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara, die Polisario, in Konflikt um die Souveränität des Gebietes. Dennoch ist nach fast 50 Jahren noch immer keine Lösung in Sicht, obwohl die Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in Westsahara (United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara – MINURSO) seit 1991 im Einsatz ist. Auch die deutsche Bundeswehr ist seit 2013 daran beteiligt.
Der Sicherheitsrat befasst sich jährlich mit dem Mandat für die Friedensmission in der Westsahara. In den vergangenen Jahrzehnten ist das Mandat der MINURSO dabei im Kern stets dasselbe geblieben. Ihre Hauptaufgaben sind die Überwachung des Waffenstillstandes und die Durchführung eines Referendums. Bei den Verhandlungen im Sicherheitsrat Ende Oktober 2024 wagte Algerien nun jedoch einen Vorstoß: das Mandat der MINURSO solle auf die Beobachtung der Menschenrechtslage vor Ort ausgeweitet werden.
Aufkündigung des Waffenstillstands nach fast 30 Jahren
Seit 1987 teilt ein von Marokko errichteter 2.700 Kilometer langer Sandwall das Gebiet der Westsahara: zwei Drittel kontrolliert Marokko, das östliche Drittel die Polisario (kurz für: Frente Popular para la Liberación de Saguía el-Hamra y Río de Oro). Zwischen 1976 und 1991 führten Marokko und die Polisario Krieg gegeneinander, bis die UN gemeinsam mit der Organisation der Afrikanischen Einheit (Organization of African Unity – OAU) einen Regelungsplan mit den Konfliktparteien aushandelten. Ein Waffenstillstand trat in Kraft. Der Plan sah außerdem ein Referendum vor, bei dem die Bevölkerung des Gebiets entscheiden sollte, ob sie unabhängig werden oder Teil Marokkos sein wollte. Dieses Referendum wurde aber bisher nicht abgehalten und die Polisario kündigte 2020 nach einem Einsatz der marokkanischen Armee den Waffenstillstand, der zu dem Zeitpunkt seit fast 30 Jahren bestanden hatte, auf. Die Situation scheint festgefahrener denn je.
Auch der Vorschlag Algeriens im Sicherheitsrat Ende Oktober hatte keinen Erfolg, da nur vier weitere Länder dafür stimmten, unter ihnen China als einzige Vetomacht des Sicherheitsrates. Die übrigen Ratsmitglieder enthielten sich. Die Resolution 2756 des Sicherheitsrats vom 31. Oktober 2024 bringt kaum Neuerungen für die Situation in der Westsahara. Stattdessen verdeutlicht sie, wie sich Völkerrecht und realpolitische Interessen bei der Konfliktlösung gegenüber stehen. Vor allem bei der Polisario führt dies zu Frustration. Expertinnen und Experten fürchten, dass die Polisario nach der Aufkündigung des Waffenstillstandes 2020 den Konflikt noch weiter eskalieren könnte.
Kein Menschenrechtsmandat für die MINURSO
Als Nachbarland Marokkos und Heimat für über 165.000 geflüchtete Sahraui spielt Algerien eine wichtige Rolle im Konflikt. Im Sicherheitsrat trat Algerien deshalb dafür ein, das MINURSO-Mandat auf die Überwachung der Menschenrechtslage auszuweiten. Auch UN-Generalsekretär António Guterres rief die Konfliktparteien in seinem Bericht zur Situation in der Westsahara vom Oktober 2024 zu mehr Kooperation mit dem Hohen Kommissariat für Menschenrechte (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights – OHCHR) auf. Das OHCHR hat seit neun Jahren keinen Zugang zum Konfliktgebiet, um unabhängige Informationen zu sammeln und die Menschenrechtslage zu beobachten. Spätestens seit dem Ende des Waffenstillstands 2020 häufen sich Berichte über Überwachung und Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten.
Vor der Abstimmung über Algeriens Änderungsvorschläge machte Amar Bendjama, Algeriens Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen, deutlich, dass seiner Meinung nach bei der Abstimmung die Legitimität des Rates im Bereich der Menschenrechte in Frage stehe. Dennoch bekam der Vorschlag Algeriens keine Mehrheit im Sicherheitsrat, sodass die MINURSO weiterhin kein Mandat zur Beobachtung der Menschenrechtslage im Konfliktgebiet hat.
Die neue Resolution, die den Einsatz der MINURSO vorerst bis zum 31. Oktober 2025 verlängert, wurde mit 12 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen angenommen. Algerien nahm nicht an der Abstimmung teil, weil seine Vorschläge „absichtlich ignoriert“ worden seien. Expertinnen und Experten befürchten, dass die Haltung der westlichen Ratsmitglieder das nordafrikanische Land nun in engere Kooperation mit Russland drängen könnte.
Zwischen Recht und Realität: Auch manche EU-Staaten erkennen Marokkos Ansprüche auf die Westsahara an
Dass Algerien das Verhalten des Sicherheitsrates in Frage stellt, scheint angesichts der deutlichen völkerrechtlichen Lage nicht weit hergeholt. Nach Artikel 73 der UN-Charta ist die Westsahara immer noch ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung – heißt, ohne staatliche Struktur. Das Völkerrecht garantiert den Sahraui das Recht auf Selbstbestimmung, das in einem geplanten Referendum umgesetzt werden sollte. Doch die letzte Resolution, in der der Sicherheitsrat ein Referendum ausdrücklich unterstützte, stammt aus dem Jahr 2001. Stattdessen nimmt der Sicherheitsrat Marokkos Autonomievorschlag zur Kenntnis, der eine Eingliederung der Westsahara in das Königreich vorsieht. Trotz des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofes (International Court of Justice - ICJ) von 1975, das Marokkos territorialen Ansprüche ablehnt, erkennen immer mehr Staaten die Souveränität Marokkos über die Westsahara – und somit Marokkos Autonomievorschlag – an.
Auch die Interessen der Europäischen Union (EU) stoßen an die Grenzen des Völkerrechts. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Oktober 2024 bestätigte erneut, dass Marokko keine Souveränität über die Westsahara ausübt und Handelsabkommen, die ihre Ressourcen einschließen, rechtswidrig sind. Dennoch erkennen mit Frankreich und Spanien auch zwei EU-Mitgliedstaaten Marokkos Souveränität über die Westsahara an. Dieser Haltungswechsel scheint von politischen Interessen geleitet zu sein, die wenig bis nichts mit dem eigentlichen Konflikt zu tun haben.
Diplomatische Tauschgeschäfte
2020 waren die USA der erste Staat, der Marokkos Souveränitätsanspruch über die Westsahara anerkannte. Dieser Schritt sollte nicht dem Friedensprozess in der Westsahara dienen, sondern verhalf der Regierung Trump zu einem anderen außenpolitischen Erfolg: Im Gegenzug erkannte Marokko als vierter mehrheitlich muslimischer Staat Israel an.
2022 folgte Spanien diesem Beispiel und im Sommer dieses Jahres auch Frankreich. Beide Staaten bewerten Marokkos Autonomievorschlag als gute Lösung. Für die Polisario und Algerien sind die Entscheidungen der ehemaligen Kolonialmächte Spanien und Frankreich ein erschütternder Schritt. Beide kritisierten die europäischen Staaten dafür scharf. Auch die Zugeständnisse der beiden EU-Staaten sind nicht durch ihren Friedenswillen motiviert. Vielmehr sitzt Marokko als Transitland auf der Flucht nach Europa vom afrikanischen Kontinent aus am längeren Hebel. Durch den Grenzverlauf, den das Königreich mit Spanien teilt, ist die Flucht durch Marokko ein Weg, die tödlichste Flüchtlingsroute der Welt durch das Mittelmeer zu umgehen. Durch die Kooperation im Grenzschutz nutzt Marokko seine Rolle als Schlüsselfigur in der Migrationspolitik, um seine Position im Westsaharakonflikt zu stärken. Wie das Verhalten der EU-Staaten zeigt: mit Erfolg.
Keine Aussicht auf Frieden?
Zwar geben die Sahraui die Idee des Referendums und ihr völkerrechtlich garantiertes Recht auf Selbstbestimmung nicht auf, doch das Verhalten des Sicherheitsrates sowie einiger EU-Mitgliedstaaten zeigt, dass realpolitische Interessen völkerrechtlichen Prinzipien vorgezogen werden. Mit Frankreich und den USA hat Marokko zwei Vetomächte an seiner Seite, die seinen Autonomievorschlag trotz des Rechts auf Selbstbestimmung der Sahraui und des Gutachtens des ICJ unterstützen. Während Marokko schwergewichtige Partner an sich bindet, schwindet die Hoffnung der Sahraui, ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben zu dürfen.
Angesichts der festgefahrenen Situation ist eine Erweiterung des MINURSO-Mandats und eine klarere Haltung des Sicherheitsrats gegen Marokkos Faustpfand-Politik notwendig. Der Blick in die Zukunft lässt jedoch Gegenteiliges befürchten: Mit einer erneuten Trump-Administration bleibt abzuwarten, ob sich der Sicherheitsrat mit einer Resolution unter Federführung der USA weiter Marokkos Position annähert. Gleichzeitig bleibt unklar, ob Algerien seine Position bei den Verhandlungen zur Westsahara 2025 verstärken wird. Die Aussichten auf einen nachhaltigen Frieden wurden durch die neue Resolution nicht verbessert; vielmehr bewegten sich die UN-Mitgliedstaaten weiter auf Marokko zu und entfernten sich so von den völkerrechtlichen Prinzipien.
Dania Schulze