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UN-Flüchtlingshilfe in Jordanien: Kampf gegen Armut und Perspektivlosigkeit

Jordanien hat im internationalen Vergleich sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Die Stimmung der Bevölkerung gegenüber diesen Menschen ist positiv, doch die ökonomische Situation ist verheerend: 80 Prozent der Geflüchteten leben in Armut. Was bedeutet das für die Arbeit der Vereinten Nationen?

Eine Straßenansicht von weißen Häusern, in der Ferne das Graffiti eines Frauengesichts
Die große Mehrheit der Geflüchteten lebt nicht in Camps, sondern in Städten wie Amman. (Foto: Josefine Schulz)

Haben Sie in diesem Monat Geld verdient? Wie hoch ist die Wohnungsmiete? Bekommen Sie Unterstützung von Hilfsorganisationen? Amani arbeitet die Punkte auf ihrem Fragebogen ab. Sie ist zu Besuch bei der hochschwangeren Soraya und ihrer Familie. Bei dem Treffen soll sich zeigen, ob die Familie Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die Hilfsorganisation Medair hat. Außerdem versucht Amani, die siebenfache Mutter auf die anstehende Geburt vorzubereiten. Sie fragt nach Beschwerden, nach ihrer Ernährung und erklärt, warum es wichtig sei, das Baby ausschließlich zu stillen. Die Mutter hört zu und nickt. Sie kniet im Wohnzimmer der Familie auf dem Boden, ein kahler Raum ohne Fenster, ausgelegt mit Teppichen, an den Rändern traditionelle Sitzkissen. Die Familie lebt in einer dunklen Drei-Zimmer-Wohnung im östlichen Teil von Amman in Jordanien.

Drei Jungs toben durch das Wohnzimmer, klettern ihrer Mutter Soraya auf den Rücken. Auf dem Schoß vor dem dicken Bauch hält sie das bisher jüngste ihrer Kinder. Knapp ein Jahr ist der Sohn Jamen alt, er hat einen Herzfehler. Schon kurz nach der Geburt musste er operiert werden, das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat den komplizierten Eingriff bezahlt. Aber eine weitere OP ist nötig und die Finanzierung bisher nicht geklärt. Der Vater kniet neben seiner Frau, er trägt ein knöchellanges braunes Gewand und schaut auf den Boden. Ob Medair nicht für die Operation aufkommen könnte? Nein, sagt Amani, sie würden nur für die Entbindung und die Nachsorge des Neugeborenen zahlen. Die Mutter wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie habe Angst, dass auch das nächste Kind nicht gesund zur Welt kommt.

Kinderarbeit und Überleben als Tagelöhner 

Die Familie hat kein Einkommen und ist vollständig auf Geld vom UNHCR und anderen Hilfsorganisationen angewiesen. Manchmal findet der Vater für einzelne Tage Gelegenheitsjobs, auf Baustellen zum Beispiel. Die Kinder helfen ihm dann und gehen nicht zur Schule.

So geht es vielen Flüchtlingsfamilien. Kinderarbeit habe mit der Pandemie wieder zugenommen, erzählt Lilly Carlisle vom jordanischen UNHCR. Offiziell gibt es für Flüchtlinge in Jordanien kaum Arbeitsmöglichkeiten. Syrer dürfen in einzelnen Bereichen arbeiten, als Handwerker, auf dem Bau und in der Landwirtschaft. Andere Nationalitäten – Jemeniten, Iraker, Somalier – erhalten gar keine Arbeitserlaubnis. Viele versuchen deshalb als Tagelöhner im informellen Sektor über die Runden zu kommen.

Aber auch solche Jobs sind während der Pandemie verloren gegangen. „Menschen, die vorher in der Lage waren, ihre Familie zu ernähren und selten Kontakt mit dem UNHCR hatten, haben plötzlich bei unseren Hilfe-Hotlines angerufen“, erzählt Carlisle.

33.000 Flüchtlingsfamilien in Jordanien erhalten vom UNHCR direkte finanzielle Hilfe. Der Bedarf ist aber wesentlich höher, über 80 Prozent der Geflüchteten leben unterhalb der Armutsgrenze. Das bedeutet, sie haben weniger als drei Dollar am Tag zur Verfügung.

Besonders die Miete macht den Menschen zu schaffen. Denn die Mehrheit der Geflüchteten wohnt nicht in Camps, sondern in den jordanischen Städten. Dort haben sich die Mieten in den letzten Jahren durch das hohe Bevölkerungswachstum fast verdoppelt.

Wohnungsnot in der Pandemie

Unter den rund 10 Millionen Einwohnern Jordaniens sind heute fast 800.000 registrierte Geflüchtete. Über 90 Prozent davon stammen aus Syrien, die anderen kommen zumeist aus dem Irak, Jemen, Somalia oder dem Sudan. Nur der Libanon hat im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung mehr Geflüchtete aufgenommen.

120.000 Syrerinnen und Syrer leben nach wie vor in den beiden großen Flüchtlingslagern des Landes - Azraq und Zaatari. Sie waren die ersten, die nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Jordanien ankamen. Irgendwann waren die Camps voll und alle weiteren Schutzsuchenden mussten in den Städten eine Bleibe finden.

Eine kleine Halfpipe aus Beton, auf der einige Jugendliche skaten
Im Skatepark sollen auch Vorurteile abgebaut werden. (Foto: Josefine Schulz)

„Viele Menschen konnten während der Corona-Pandemie ihre Miete nicht mehr zahlen und haben deshalb ihre Wohnungen verloren“, erzählt Carlisle. Das UNHCR hilft in diesen Fällen mit Geld aus, damit die Familien wenigstens für einige Tage eine Unterkunft zahlen können. Auch die juristischen Mitarbeiter seien gerade mit vielen Vermietern im Gespräch, um Räumungen zu verhindern.

In der Hauptstadt Amman leben die Geflüchteten zumeist im Ostteil der Stadt, dem armen Teil. Hier ist vom Modernisierungsboom, von Wolkenkratzern aus Glas oder hippen Cafés, wie es sie in der Hauptstadt immer häufiger gibt, wenig zu sehen. Die Häuser stehen dicht gedrängt, in die engen Wohnungen fällt kaum Licht, es gibt keine Bäume, keinen Rasen.

„In Amman fehlen Orte, wo die Menschen sich treffen können. Das ist besonders für die armen Menschen, also auch für die meisten Geflüchteten ein großes Problem“, sagt Mohammed, ein Mann mit Kapuzenpullover und ersten grauen Strähnen im Haar. Mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne hat er im Zentrum Ammans auf einer Brache den ersten Skatepark Jordaniens gebaut. Mehrmals in der Woche findet hier Skateboard-Unterricht für Kinder und Jugendliche statt – für jordanische ebenso wie für geflüchtete.

Ohne Geld kein öffentliches Leben

Weil es kaum öffentliche Orte gebe, würden besonders Geflüchtete und arme Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt, findet Mohammed. Sie können nicht in teure Cafés gehen und in den Einkaufszentren werden sie häufig von den Türstehern abgewiesen. Der Skatepark ist für ihn deshalb weit mehr als ein Sportprojekt.

Er erzählt von einem Kurs mit sudanesischen Flüchtlingskindern. „Die sudanesische Community lebt ziemlich verstreut in Amman. Nachdem wir ein paar Mal mit den Kids trainiert haben, brachten die ihre Familien mit. Die Mütter haben Essen gemacht. Und mittlerweile ist der Samstag für die sudanesische Community ein fester Termin, an dem sie sich zum großen Picknick im Skatepark treffen.“

Am Anfang habe es auch Probleme mit Rassismus gegeben. „Die jordanischen Kinder wollten nicht mit den sudanesischen Kindern skaten – wegen ihrer Hautfarbe. Mittlerweile sind sie super dicke Freunde.“

Dass vor allem Geflüchtete aus dem Sudan und Somalia mit Vorurteilen und Ressentiments zu kämpfen haben, erlebt auch Lilly Carlisle. Das UNHCR ermittelt regelmäßig die Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten. Insgesamt sei die Hilfsbereitschaft nach wie vor sehr hoch, meint Carlisle. Vor allem gegenüber Arabern. Es gebe in Jordanien im Großen und Ganzen keinen flüchtlingskritischen Diskurs. „Wahrscheinlich liegt es an der Geschichte. Jordanien hat schon immer die Menschen aus der Region aufgenommen, erst die Palästinenser, jetzt die Syrer.“

Trotzdem findet Carlisle das beeindruckend. Denn der Bevölkerungszuwachs stellt Jordanien vor große Herausforderungen. Wasser beispielsweise ist extrem knapp, das Land gehört zu den trockensten der Welt. Und es fehlt an Jobs. Die Arbeitslosenquote liegt in Jordanien bei 23 Prozent, unter jungen Menschen wird sie auf über 50 Prozent geschätzt.

„Der einzige Grund ist die Armut“

Deshalb bleibt die jordanische Regierung mit Blick auf Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete restriktiv.

„Wir sind in ständiger Verhandlung mit der Regierung und bitten sie darum, neue Branchen für die Geflüchteten zu öffnen“, meint Carlisle. Denn viele Flüchtlinge seien ausgebildete Ärztinnen, Lehrer oder Informatikerinnen, dürften aber ihre Fähigkeiten in Jordanien nicht nutzen.

Ein jüngerer und ein älterer Mann stehen vor einem weißen Haus und lächeln
Der syrische Geflüchtete Hashim mit seinem Sohn vor seinem Haus. (Foto: Josefine Schulz)

Das ist auch für Hashim das größte Problem. Seit neun Jahren lebt er mit seiner Familie in der Nähe der Stadt Irbid im Norden Jordaniens. Er hat ein bescheidenes Haus, weiß gestrichen, einen kleinen Garten mit Orangenbäumen davor. Er fühlt sich wohl, ist gut integriert, die Jordanier hätten ihn und seine Familie sehr herzlich aufgenommen. Ehrenamtlich engagiert er sich in verschiedenen Dorfkomitees.

Mit dem sozialen Abstieg hat er nach den vielen Jahren in Jordanien noch immer zu kämpfen. In Syrien war seine Familie wohlhabend, Hashim arbeitete für eine Regierungsbehörde. „Meine Kinder waren gut in der Schule, sie waren die besten, sie hatten alle Chancen.“

In Jordanien brachen seine Söhne die Schule ab. Obwohl noch minderjährig mussten sie Geld dazuverdienen. „Das war natürlich verboten und hat uns alle auch psychisch sehr belastet.“ Noch immer sei die finanzielle Situation schwierig. „Die Hilfe vom UNHCR wurde immer weiter gekürzt. In den vergangenen sechs Jahren haben wir gar nichts mehr bekommen.“

Vor ein paar Jahren lebten in der Nachbarschaft fast 100 syrische Familien, mittlerweile sind es noch 25. „Die meisten sind weggegangen, nach Europa und in die USA“, erzählt Hashim. „Die Armut, das ist der einzige Grund.“

Kaum Chancen auf Resettlement

Auch Carlisle vom UNHCR berichtet, dass viele Geflüchtete aufgrund der ökonomischen Situation keine Zukunft in Jordanien sehen. Täglich bekomme das UNHCR hunderte Anrufe und Mails von Menschen, die um die Aufnahme in einem anderen Land bitten.

Aber solche Resettlement-Plätze sind knapp. Für das Jahr 2021 gibt es nur 5.000 Plätze für Geflüchtete aus Jordanien, das UNHCR hat den Bedarf auf 75.000 berechnet.

Die meisten Geflüchteten werden sich auf ein Leben in Jordanien einstellen müssen. Zwar wollen laut UNHCR 94 Prozent der Syrer zurück nach Syrien, aber das kann Jahre dauern. Der Fokus des Flüchtlingshilfswerks hat sich deshalb in den vergangenen zehn Jahren stark verschoben. „Am Anfang ging es um humanitäre Hilfe. Es ging darum, die Geflüchteten mit Unterkünften, Geld, Essen und Wasser zu versorgen“, sagt Carlisle. „Jetzt brauchen die Menschen eine langfristige Perspektive. Das heißt: Ausbildung und Jobs.“

Josefine Schulz

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Recherchestipendiums der DGVN zum Thema „Herausforderung Mixed Migration“, finanziert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).


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