Vorschläge für eine Neuakzentuierung des deutschen Engagements in den Vereinten Nationen

2023 jährt sich die deutsche UN-Mitgliedschaft zum 50. Mal. Im September 1973 traten mit der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zwei deutsche Staaten zeitgleich den Vereinten Nationen bei. Dieses 50-jährige Jubiläum bot Anlass, im Rahmen einer dreitägige Konferenz (9.- 11. Juni 2023), die gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) und der Evangelischen Akademie Loccum organisiert wurde, über eine Neuakzentuierung der bisherigen deutschen UN-Politik nachzudenken – kein leichtes Unterfangen angesichts der schweren Krise, in der sich der Multilateralismus weltweit seit Jahren befindet. Folgende Überlegungen und Empfehlungen gingen aus der Konferenz mit insgesamt 70 Teilnehmenden, darunter zahlreiche renommierte UN-Expertinnen und Experten, hervor.
Im Rahmen der Vereinten Nationen ist Deutschland seit Jahrzehnten ein zentraler Akteur. Es bringt sich in vielen UN-Initiativen ein, ist viertgrößter Beitragszahler zum regulären UN-Budget und nach den USA der zweitgrößte Geber zum UN-System insgesamt. Dennoch könnte Deutschland in den Vereinten Nationen mehr Engagement zeigen und sein Profil – das zuweilen konturenschwach erscheint – schärfen. Wofür steht das deutsche UN-Engagement bei der Bewältigung der Krisen und bei Gestaltung der gemeinsamen globalen Zukunft jenseits des (reinen) Mitmachens? Wie könnte das Engagement in den kommenden Jahren gestärkt werden? Zu diesen Fragen entwickelten die Teilnehmenden der Loccumer Tagung im Rahmen eines interaktiven Diskussionsprozesses eine Reihe von Vorschlägen.
Deutschland sollte …
(1) … in seiner UN-Politik im Sinne eines solidarischen Multilateralismus dem Leitprinzip der Bescheidenheit und Selbstreflexion folgen. Initiativen, die unmittelbar auf nationalen Eigennutz ausgerichtet sind, sollten vermieden werden – so eine Mehrheit der Diskutierenden auf der Loccumer Konferenz. Direkt damit zusammenhängend sollte Deutschland – unter Beachtung seines besonderen historischen Erbes – versuchen, den Vorwurf der „Doppelmoral“ bzw. „doppelten Standards“ insbesondere im Bereich der Menschenrechtsfragen zu vermeiden. Hinsichtlich Unterdrückung, Machtmissbrauch oder Rassismus erfordert dies auch den Mut, im UN-Kontext wichtigen Bündnispartnern zu widersprechen und zu ihnen in Opposition zu gehen.
(2) … auf inklusivere UN-Strukturen hinwirken, die neben staatlichen und supranationalen Akteuren auch der transnationalen Zivilgesellschaft sowie international agierenden Beteiligten aus Wissenschaft, Stiftungen und Think Tanks mehr Teilhabe- und Mitwirkungschancen einräumen. Dadurch würde nicht nur ein größerer partizipativer Gestaltungsraum entstehen, sondern auch die Expertise in UN-Politikfeldern steigen sowie deren gesellschaftliche Legitimierung erhöht werden – so die vorherrschende Einschätzung der Tagungsteilnehmenden. Zwar konferiert die Bundesregierung im UN-Rahmen schon häufig mit nichtstaatlichen Akteuren, allerdings würden deren Gestaltungs- und Wirkungskraft derzeit noch zu zögerlich eingebracht.
(3) … beim Thema UN-Sicherheitsrat den Fokus auf eine Transformation der Arbeitsweisen dieses Gremiums legen. Einigkeit bestand darin, dass der UNSicherheitsrat derzeit – und vermutlich auch in absehbarer Zukunft – dysfunktional ist. Zu nennen sind hier die mangelnde Legitimität, Leistungsfähigkeit und regionale Repräsentation, die sich in der Inaktivität in der Bearbeitung von Kriegen und Konflikten, Blockaden durch die ständigen Mitglieder oder die zunehmende Polarisierung der Mitglieder zeigen. Einige forderten in diesem Zusammenhang auch, dass Deutschland sein langjähriges gebetsmühlenartiges Engagement für einen eigenen ständigen UN-Sicherheitsratssitz im Rahmen der G4 Initiative zügig beenden sollte. Insbesondere mit Blick auf das Leitprinzip der Bescheidenheit und Selbstreflexion ist dieses Vorhaben mittlerweile aus der Zeit gefallen und stößt Bündnispartnern – inner- und außerhalb Europas – regelmäßig vor den Kopf. Eine grundlegende Reform und Neukonzeption des Sicherheitsrats erscheint nahezu allen Teilnehmenden der Loccumer Konferenz allerdings unrealistisch, weshalb eine Transformation der Arbeitsweisen dazu beitragen würde, die derzeitigen Probleme des UN-Sicherheitsrats zu minimieren. Oft wird in diesem Zusammenhang die Initiative Liechtensteins erwähnt, das routinemäßige Anhörungen nach VetoEntscheidungen in der UN-Generalversammlung etabliert hat. Denkbare weitere Schritte, die in Richtung einer inkrementalen Transformation des UNSicherheitsrates angestoßen werden könnten, wären bspw. das Agenda-Setting der inhaltlichen Themen dieses Gremiums, eine engere Abstimmung bzw. engerer Wissenstransfer unter den nichtständigen Mitgliedern oder die Einbindung der transnationalen Zivilgesellschaft. Auch die Möglichkeit zur Wiederwahl von nichtständigen Mitgliedern wurde von den Teilnehmenden als Reformoption genannt.
(4) … gemäß dem Motto „UN-Politik fängt zu Hause an“ stärker darauf achten, dass Vereinbarungen und Verpflichtungen, die im Rahmen der Vereinten Nationen verhandelt wurden, zügig und verbindlich in Deutschland implementiert werden. Vor allem im Kontext der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDG) sei weiterhin zu beobachten, dass diese vorwiegend als Handlungskontext für den sogenannten „Globalen Süden“ wahrgenommen und entsprechend kommuniziert würden – ohne ausreichend zu reflektieren, dass dieses Rahmenwerk im gleichen Maße Geltung für den „Globalen Norden“ und dessen Gesellschaften habe. Hier als Vorbild bei der zügigen Implementierung zu agieren, würde sich unmittelbar positiv auf die Glaubwürdigkeit des deutschen UNEngagements auswirken.
(5) … im Zusammenhang mit der stärkeren innenpolitischen Verankerung von UN-Politik auch die Öffentlichkeitsarbeit im Inland zu den Vereinten Nationen stärken. Ob in den Medien, im Bundestag oder in der politischen Bildung – Fragestellungen und Debattenbeiträge, die die Vereinten Nationen betreffen, kommen im innerdeutschen Kontext eher selten vor und stellen ein gesellschaftspolitisches Nischenthema dar. Hier mehr Aufklärung, Verständnis und inhaltliche Auseinandersetzung zu schaffen, sei eine wichtige Gemeinschaftsaufgabe für die kommenden Jahre.
(6) … im UN-Rahmen besonderes Augenmerk darauflegen, als Brückenbauer zum sogenannten „Globalen Süden“ zu agieren – besonders gegenüber jenen Staaten, die im demokratischen Spektrum verankert sind. Deutschland genieße in Gesellschaften und Staaten jenseits der westlichen Welt bereits hohes Ansehen, schöpfe aber die sich bietenden Potenziale derzeit noch unzureichend aus – so die Einschätzung der Mehrheit der Konferenzteilnehmenden. Die gemeinsame Moderation mit Namibia beim UN-Zukunftsgipfel im September 2024 könnte als ein wichtiger Baustein für weiteres Engagement in diese Richtung genutzt werden.
(7) … mit Blick auf die Priorisierung von Partnerschaften mit Akteuren aus dem sogenannten „Globalen Süden“ besonders transformative UN-Themen beim zukünftigen Agenda-Settingbevorzugen. Oft würden in den Vereinten Nationen Themen verhandelt, die besonders Staaten der nördlichen Hemisphäre am Herzen liegen. Eine Brückenbauer- und Scharnierfunktion könne Deutschland gegenüber nichtwestlichen Staaten allerdings nur dann übernehmen, wenn es auch auf inhaltlicher Ebene eine entsprechende Annäherung gäbe. Insbesondere bei sozioökonomischen Transformationsprozessen und deren sozialer Abfederung besitze Deutschland viel Erfahrung und habe hier einen Glaubwürdigkeits- und Kompetenzvorsprung, der sich gut in den UN-Kontext einbringen ließe. Gemäß dieser transformativen Prämisse gebe es eine ganze Reihe von Themenfeldern, die für ein verstärktes deutsches UN-Engagement in dieser Richtung zukünftig infrage kämen – bspw. Energie- und Klimapolitik mit besonderem Fokus auf Technologietransfer, Regulierung von Künstlicher Intelligenz, die Herausforderung des demographischen Wandels und seiner Vielseitigkeit in unterschiedlichen Weltregionen oder das Management von Pandemien und deren sozioökonomischen Nachwirkungen. Aber auch Erinnerungskultur und Geschichtsbewusstsein oder der Umgang mit Desinformationen könnten wichtige Zukunftsthemen sein, die besonders für Partner aus dem sogenannten „Globalen Süden“ Integrationskraft hätten.
(8) … ausdrücklichen Fokus auf die SDGs legen, diese als Referenzrahmen seiner zukünftigen UN-Politik betrachten und in der öffentlichen wie auch der diplomatischen Kommunikation besonders hervorheben. Dieses Konzept umfasse alle wichtigen Dimensionen der Vereinten Nationen und stelle im Grunde eine UNStrategie der kommenden Jahre dar – so die Diskutierenden der Loccumer Konferenz.