Eine Agenda zum 'Rosinenpicken'?
Mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDGs) haben sich die Vereinten Nationen zum Ziel gesetzt, bis 2030 eine umfassende Transformation in die Wege zu leiten. Eine Besonderheit der SDGs ist ihr integrativer und inklusiver Ansatz. Kein Ziel kann erreicht werden, ohne dass auch die anderen berücksichtigt werden. Eine allumfassende politische, soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation kann nur glücken, wenn alle Ziele Berücksichtigung finden.
Die SDGs – Leitlinien einer integrativen und inklusiven Transformationsagenda
Als umfassende Transformationsagenda dienen die SDGs als Leitlinien für eine nachhaltige Zukunft. Doch die SDGs sind viel mehr. Sie sind gleichzeitig eine Kommunikationskampagne. Sie binden Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ein und decken ein breites Spektrum an Themen ab – von Frieden, Wohlstand und nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung über Gleichberechtigung bis hin zu Maßnahmen gegen den Klimawandel.
Dieser ganzheitliche Ansatz unterscheidet die SDGs deutlich von ihrer Vorgängeragenda, den Milleniumsentwicklungszielen (Millennium Development Goals - MDGs), die primär auf Entwicklungsstaaten ausgerichtet waren. Die SDGs hingegen richten sich sowohl an Entwicklungs- als auch an Industrieländer und sollen globale Partnerschaften fördern und vertiefen. Dabei umfassen sie die drei Hauptdimensionen von Nachhaltigkeit: sozial, ökonomisch und ökologisch. Nicht nur die 193 Mitgliedstaaten, sondern auch Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Einzelpersonen werden in die Pflicht genommen.
Eine Agenda zum ‚Rosinenpicken‘?
Trotz des ganzheitlichen Ansatzes der SDGs zeigen Studien, dass viele Staaten einzelne Ziele bevorzugt umsetzen. Dieses ‚Rosinenpicken‘ kann die integrative Umsetzung der SDGs untergraben. Eine Analyse von Berichten im Rahmen der Freiwilligen nationalen Überprüfung (Voluntary National Review - VNR) von insgesamt 19 ausgewählten Staaten ergab, dass der Großteil dieser Staaten bestimmte SDGs oder Sets von SDGs in ihren nationalen Umsetzungsplänen priorisiert. Der Fokus liegt dabei meist auf ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit, während ökologische Ziele tendenziell in den Hintergrund rücken.
Besonders zwei SDGs werden in den meisten Ländern über alle Einkommensstufen hinweg priorisiert: SDG 1 „Keine Armut“ und SDG 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“. Auffällig ist, dass reiche Staaten SDG 8 besonders stark betonen, obwohl sie bereits einen hohen wirtschaftlichen Standard erreicht haben. Staaten mit niedrigerem Einkommen hingegen setzen ihren Schwerpunkt eher auf gesundheitsorientierte Ziele und stellen ökologische Aspekte zurück.
Internationale Organisationen spielen insbesondere in Entwicklungsländern eine zentrale Rolle bei der Priorisierung bestimmter SDGs. Diese Organisationen und Interessensgruppen fokussieren sich oft auf die Erfüllung spezifischer sektoraler Ziele und definieren entsprechende SDGs als ihre Kernaufgabe.
Eine weitere Studie, zeigt, dass die Verknüpfung bestimmter SDGs sowohl positive Wechselwirkungen als auch Zielkonflikte hervorbringt. So harmonieren die SDGs zu Nahrungsmitteln, Wasser und Energie (SDGs 2, 6 und 7) besonders gut miteinander, während der Fokus auf bestimmte SDGs die Erreichung anderer Ziele erschweren kann. Insbesondere die SDGs zu verantwortungsvollen Konsum- und Produktionsmustern, Klimawandel und Leben an Land (SDGs 12, 13 und 15) haben, wenn nicht auf die ganzheitliche Umsetzung geachtet wird, das größte Potenzial, sich mit anderen SDGs, besonders SDG 8, gegenseitig negativ zu beeinflussen.
Deutschland und das Rosinenpicken der SDGs
In Deutschland bildet die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) den zentralen Fahrplan für die Umsetzung der SDGs. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht alle zwei Jahre einen aktualisierten Indikatorenbericht, der den Umsetzungsstand der DNS dokumentiert. Grundsätzlich wird die konkrete Messung der Umsetzung der SDGs aber als eine große Herausforderung dargestellt, die die Bewertung von Fortschritten und Erfolgen erschwert.
Deutschland betont stets den integrativen und ganzheitlichen Ansatz der SDGs sowie das Prinzip globaler Partnerschaften. Im Vorwort des Freiwilligen Deutschen Staatenberichts zum Hochrangingen Politischen Forums für nachhaltige Entwicklung (HLPF) 2021 schrieb die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel: „In Deutschland wollen wir mit der Weiterentwicklung unserer Nachhaltigkeitsstrategie und insbesondere mit Bildung, Forschung und Innovationen den Transformationsprozess voranbringen“.
Der Bericht hebt vor allem Fortschritte bei SDG 3 „Gesundheit und Wohlergehen“, SDG 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“, SDG 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ sowie SDG 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ hervor – Ziele, die ursprünglich stärker auf Entwicklungsstaaten ausgerichtet sind. Dieser Fokus zeigt sich auch in der Anzahl der Indikatoren, die Deutschland zur Messung der Fortschritte heranzieht. So sind für SDG 8 sieben Messindikatoren aufgeführt, während für SDG 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“, das eigentlich vor allem Industriestaaten anspricht, nur zwei Messindikatoren verwendet werden.
Insgesamt sind ökologische Ziele, die eher an Industriestaaten gerichtet sind, in der DNS weniger prominent vertreten. Die Strategie wird jedoch aktuell überarbeitet. Die neue Dialogfassung stellt den Klimawandel als erste nationale Herausforderung in den Vordergrund und erkennt großes Handlungspotenzial in diesem Bereich – auch als Antwort auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. März 2021 zur Klimaschutzgesetzgebung in Deutschland. Dennoch betreffen die Ideen und Indikatoren der neuen Dialogfassung zum Themenfeld Klimaschutz hauptsächlich die Klimafinanzierung und innovative Technologien. Neue Indikatoren zu SDG 13 wurden nicht entwickelt.
Die Erreichung der SDGs – insgesamt kaum auf Kurs
Trotz dieser Entwicklungen wird von Seiten aller Fraktionen betont, dass die Erreichung der SDGs nur mit einem ganzheitlichen und integrativen Ansatz möglich ist, der alle Dimensionen der Nachhaltigkeit – ökonomisch, sozial und ökologisch – berücksichtigt.
Der Bericht über die Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN zieht 2024 jedoch eine ernüchternde Bilanz: Obwohl mehr als die Hälfte der Laufzeit der SDGs verstrichen ist, befinden sich lediglich 17 Prozent der Zielvorgaben auf Kurs. Um die globalen Ziele doch noch zu erreichen, sind weitreichende Maßnahmen erforderlich.
Das Priorisieren einzelner SDGs gefährdet den integrativen Ansatz der Agenda, der für eine nachhaltige Transformation der Welt dringend notwendig ist. Um diese umfassende Transformation zu erreichen, bedarf es entschlossenen und effektiven politischen Handelns – besonders in Zeiten, die von zahlreichen Krisen, insbesondere einer Krise des Multilateralismus, geprägt sind.
Carolin Funcke