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Eine Agenda zum 'Rosinen­picken'?

Ein Prinzip der SDGs ist ihr integrativer Ansatz: kein Ziel kann erreicht werden, ohne die anderen zu berück­sichtigen. Doch Studien zeigen, dass Staaten sich auf einzelne SDGs in ihren Maßnahmen fokussieren und andere vernach­lässigen. Inwiefern ist das ein Problem und wie verhält sich Deutschland?

Projizierung der SDGs auf die Fassade des UN-Hauptgebäudes
Projektion der SDGs auf die Fassade des UN-Hauptgebäudes (UN Photo/Cia Pak)

Mit ihren 17 Zielen für nach­haltige Entwicklung (Sustain­able Develop­ment Goals - SDGs) haben sich die Vereinten Nationen zum Ziel gesetzt, bis 2030 eine um­fassende Trans­for­mation in die Wege zu leiten. Eine Besonder­heit der SDGs ist ihr inte­grativer und inklusiver Ansatz. Kein Ziel kann erreicht werden, ohne dass auch die anderen berück­sichtigt werden. Eine allum­fassende politische, soziale, wirt­schaft­liche und gesell­schaft­liche Trans­formation kann nur glücken, wenn alle Ziele Berück­sichti­gung finden.

Die SDGs – Leit­linien einer inte­grativen und inklusiven Trans­formations­agenda

Als umfassende Transformations­agenda dienen die SDGs als Leit­linien für eine nachhaltige Zukunft. Doch die SDGs sind viel mehr. Sie sind gleichzeitig eine Kommunikations­kampagne. Sie binden Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ein und decken ein breites Spektrum an Themen ab – von Frieden, Wohlstand und nach­haltiger wirtschaft­licher Entwicklung über Gleich­berechtigung bis hin zu Maß­nahmen gegen den Klima­wandel. 

Dieser ganz­heitliche Ansatz unterscheidet die SDGs deutlich von ihrer Vorgängeragenda, den Milleniums­entwicklungs­zielen (Millennium Development Goals - MDGs), die primär auf Entwicklungsstaaten ausgerichtet waren. Die SDGs hingegen richten sich sowohl an Ent­wicklungs- als auch an Industrie­länder und sollen globale Partnerschaften fördern und vertiefen. Dabei um­fassen sie die drei Haupt­dimensionen von Nach­haltigkeit: sozial, ökonomisch und ökologisch. Nicht nur die 193 Mitglied­staaten, sondern auch Zivil­gesellschaft, Wirtschaft, Wissen­schaft und Einzel­personen werden in die Pflicht genommen.

Eine Agenda zum ‚Rosinen­picken‘?

Trotz des ganzheit­lichen Ansatzes der SDGs zeigen Studien, dass viele Staaten einzel­ne Ziele bevorzugt um­setzen. Dieses ‚Rosinen­picken‘ kann die inte­grative Umsetz­ung der SDGs unter­graben. Eine Analyse von Berichten im Rahmen der Frei­wil­ligen nationalen Über­prüfung (Voluntary National Review - VNR) von insgesamt 19 ausge­wählten Staaten ergab, dass der Großteil dieser Staaten bestim­mte SDGs oder Sets von SDGs in ihren nationalen Um­setzungs­plänen priorisiert. Der Fokus liegt dabei meist auf ökonomischer und sozialer Nach­haltigkeit, während ökolo­gische Ziele tendenziell in den Hinter­grund rücken. 

Besonders zwei SDGs werden in den meisten Ländern über alle Ein­kommens­stufen hinweg priorisiert: SDG 1 „Keine Armut“ und SDG 8 „Menschen­würdige Arbeit und Wirtschafts­wachs­tum“. Auffällig ist, dass reiche Staaten SDG 8 besonders stark betonen, obwohl sie bereits einen hohen wirt­schaft­lichen Standard erreicht haben. Staaten mit niedrigerem Ein­kommen hingegen setzen ihren Schwer­punkt eher auf ge­sundheits­orientierte Ziele und stellen ökolo­gische Aspekte zurück.

Inter­nationale Organi­sationen spielen insbe­sondere in Ent­wicklungs­ländern eine zentrale Rolle bei der Priori­sierung bestimmter SDGs. Diese Organi­sationen und Inter­essens­gruppen fokus­sieren sich oft auf die Erfüllung spezifischer sektoraler Ziele und definieren entsprechende SDGs als ihre Kern­aufgabe.

Eine weitere Studie, zeigt, dass die Ver­knüpf­ung bestimmter SDGs sowohl positive Wechsel­wirkungen als auch Ziel­konflikte hervorbringt. So harmonieren die SDGs zu Nahrungs­mitteln, Wasser und Energie (SDGs 2, 6 und 7) be­sonders gut miteinander, während der Fokus auf bestim­mte SDGs die Erreich­ung anderer Ziele er­schweren kann. Ins­besondere die SDGs zu ver­antwortungs­vollen Konsum- und Pro­duktions­mustern, Klima­wandel und Leben an Land (SDGs 12, 13 und 15) haben, wenn nicht auf die ganzheit­liche Um­setzung geachtet wird, das größte Potenzial, sich mit anderen SDGs, besonders SDG 8, gegen­seitig negativ zu beein­flussen.

Deutsch­land und das Rosinen­picken der SDGs

In Deutsch­land bildet die Deutsche Nachhaltig­keits­strategie (DNS) den zentralen Fahr­plan für die Um­setzung der SDGs. Das Statis­tische Bunde­samt veröf­fentlicht alle zwei Jahre einen aktual­isierten Indikatoren­bericht, der den Umsetzungsstand der DNS dokumentiert. Grund­sätzlich wird die konkrete Messung der Um­setzung der SDGs aber als eine große Herausforderung dargestellt, die die Bewertung von Fortschritten und Erfolgen erschwert. 

Deutschland betont stets den integrativen und ganzheit­lichen Ansatz der SDGs sowie das Prinzip globaler Partnerschaften. Im Vorwort des Freiwilligen Deutschen Staatenberichts zum Hoch­rangingen Politischen Forums für nach­haltige Entwick­lung (HLPF) 2021 schrieb die damalige Bundes­kanzlerin Angela Merkel: „In Deutschland wollen wir mit der Weiter­entwicklung unserer Nach­haltigkeits­strategie und ins­besondere mit Bildung, Forschung und Inno­vationen den Trans­formations­prozess voran­bringen“. 

Der Bericht hebt vor allem Fort­schritte bei SDG 3 „Gesundheit und Wohl­ergehen“, SDG 8 „Menschen­würdige Arbeit und Wirtschafts­wachstum“, SDG 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ sowie SDG 17 „Partner­schaften zur Er­reichung der Ziele“ hervor – Ziele, die ursprünglich stärker auf Ent­wicklungs­staaten aus­gerichtet sind. Dieser Fokus zeigt sich auch in der Anzahl der Indikatoren, die Deutschland zur Messung der Fort­schritte heranzieht. So sind für SDG 8 sieben Mess­indikatoren aufgeführt, während für SDG 13 „Maß­nahmen zum Klima­schutz“, das eigentlich vor allem Industrie­staaten anspricht, nur zwei Mess­indikatoren verwendet werden. 

Insgesamt sind ökologische Ziele, die eher an Industrie­staaten gerichtet sind, in der DNS weniger prominent vertreten. Die Strategie wird jedoch aktuell über­arbeitet. Die neue Dialog­fassung stellt den Klima­wandel als erste nationale Heraus­forderung in den Vorder­grund und erkennt großes Handlungs­potenzial in diesem Bereich – auch als Antwort auf die Ent­scheidung des Bundes­verfas­sungs­gerichts vom 4. März 2021 zur Klima­schutz­gesetz­gebung in Deutschland. Dennoch betreffen die Ideen und Indikatoren der neuen Dialog­fassung zum Themen­feld Klimaschutz haupt­sächlich die Klima­finanzierung und innovative Techno­logien. Neue Indika­toren zu SDG 13 wurden nicht entwickelt. 

Die Er­reich­ung der SDGs – insgesamt kaum auf Kurs

Trotz dieser Ent­wicklungen wird von Seiten aller Fraktionen betont, dass die Er­reichung der SDGs nur mit einem ganz­heit­lichen und integrativen Ansatz möglich ist, der alle Dimen­sionen der Nach­haltigkeit – ökonomisch, sozial und ökologisch – berücksichtigt.

Der Bericht über die Ziele für nach­haltige Entwicklung der UN zieht 2024 jedoch eine ernüch­ternde Bilanz: Obwohl mehr als die Hälfte der Lauf­zeit der SDGs verstrichen ist, befinden sich lediglich 17 Prozent der Ziel­vorgaben auf Kurs. Um die globalen Ziele doch noch zu erreichen, sind weit­reichende Maß­nahmen erforderlich.

Das Prio­risieren einzelner SDGs gefährdet den integrativen Ansatz der Agenda, der für eine nach­haltige Trans­formation der Welt dringend notwendig ist. Um diese um­fassende Trans­formation zu erreichen, bedarf es entschlos­senen und effektiven politischen Handelns – besonders in Zeiten, die von zahl­reichen Krisen, insbesondere einer Krise des Multi­lateralismus, geprägt sind.

Carolin Funcke


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