Worte sind nicht genug
Arora – der Familienname steht bei ihr zuerst – arbeitet erst seit wenigen Jahren für die UN, genauer das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP). Sie wurde in Indien geboren, lebte mit ihren Eltern einige Jahre in Saudi-Arabien und studierte in Kanada. Anfang Februar überraschte die 34-Jährige die Öffentlichkeit mit ihrer Ankündigung, Antonió Guterres herauszufordern und die erste UN-Generalsekretärin werden zu wollen.
Doch die Gründe der jungen Kanadierin mit indischen Wurzeln gehen viel weiter, als den UN „nur“ ein weibliches Gesicht zu geben. Ihre Kritik am UN-System ist fundamental: Die Vereinten Nationen hätten ihren Zweck aus den Augen verloren, ja geradezu verraten. Im Interview erklärt sie die Gründe für ihre Kandidatur.
DGVN: Frau Arora, sind Sie eines Tages aufgewacht und sagten sich: „Ich will Generalsekretärin der Vereinten Nationen werden,“ oder verfolgen Sie diesen Plan schon lange?
Arora Akanksha: Weder noch! 2016 begann ich für die UN zu arbeiten, wo ich den gegenwärtigen Generalsekretär bei finanziellen Reformen unterstütze. Aber schon nach zwei Wochen verstand ich, dass die Vereinten Nationen zwar hehre Ziele verfolgen, in den Gängen der Organisation bekommt man aber einen ganz anderen Eindruck: Anpassung ist besser als Konfrontation, akzeptiere die Dinge, wie sie sind! Wenig später wurde ich auf dem Weg von der Arbeit von einem Taxi angefahren.
Ich lag acht Stunden in der Notaufnahme und in dieser Zeit wurde mir Einiges klar. Bis zu diesem Tag hatte ich nichts gegeben, nur angenommen: Von meinen Großeltern und Eltern, die sich für mich aufopferten. Und von den Frauen, die für die Rechte gekämpft haben, die ich jetzt genieße. Aber welchen Beitrag leiste ich?
Nach meinem Unfall widmete ich mich mit aller Kraft der Arbeit an den Reformen, für die ich eingestellt worden war. Aber nach zwei Jahren hatte ich eine traurige Erkenntnis: Wie schon früher war diese Reform nur reine Kulissenschieberei, ein Spiel mit Titeln und Abteilungen. Ich empfand das als Niederlage. Auf einer Dienstreise nach Uganda hatte ich ein weiteres einschneidendes Erlebnis: Ich sah ein Mädchen, Erde essen. Ein Vorgesetzter sagte daraufhin nur: „Erde enthält Eisen, das ist gut für Kinder.“ Und in diesem Moment erkannte ich, dass das Problem an der Führung liegt. Wenn man so redet, stimmt etwas mit dem moralischen Kompass nicht.
Ich glaube dennoch an die UN – es gibt keinen besseren Ort, wenn man etwas verändern will. Mit der richtigen Führung kann man Unglaubliches leisten, denn wir haben hier zweifellos die besten Angestellten der Welt. Im Januar 2019 habe ich mich also entschieden, selbst als Generalsekretärin zu kandidieren.
Sie haben den gegenwärtigen Generalsekretär deutlich kritisiert. Warum glauben Sie, dass sie den Job anders machen würden, als die „großen Männer“ vor Ihnen?
Eines vorweg: Jeder Mensch ist großartig. Und wir sollten die Menschen nach ihren Taten beurteilen, nicht nach ihren Worten. Die Welt ist jetzt bereit für einen Wandel. Wenn man 75 Jahre das Gleiche macht und keine anderen Ergebnisse bekommt, ist es Zeit, die Dinge anders anzugehen.
Was mich von anderen unterscheidet, ist meine Erfahrung als Millenial. Wir sind eine Generation, die sich nicht über Nationalität oder Geschlecht identifiziert, sondern durch unsere gemeinsame Vorstellungskraft, die Welt zu verbessern. Ich bin unnachgiebig darin, die Dinge zum Guten verändern zu wollen, und das macht mich zu einer Kandidatin, die tatsächlich diesen Wandel umsetzen kann.
Außerdem kenne ich die Perspektive der Angestellten. Sie sind diejenigen, die die Probleme aus nächster Nähe kennen. Aber bei Entscheidungen kommen sie nicht zu Wort. Um Erfolg zu haben, kommt es auf die Durchsetzung an. Und deshalb braucht es an der Spitze jemanden, der diese Arbeit kennt.
Was würden Sie als Generalsekretärin konkret anders machen?
Zunächst einmal muss es um Frieden und Sicherheit gehen, deshalb wurden die UN gegründet. Aber im Bereich Sicherheit geht es seit Langem abwärts, weil wir uns nicht um das Leiden der Menschen kümmern. Es gibt mehr als 85 Millionen Geflüchtete, über ein Prozent der Weltbevölkerung! Weil die grundlegenden Bedürfnisse dieser Menschen nicht gestillt werden, sind sie Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und den Händen terroristischer Organisationen ausgesetzt. Dieses Leid und die Menschenrechtsverletzungen müssen wir unbedingt angehen.
Zweitens müssen wir uns der wachsenden humanitären Krise, vor allem der Situation der Geflüchteten, annehmen. Dafür braucht es die nötigen Ressourcen. Das UNHCR sagt, dass es ein Defizit von vier Milliarden Dollar habe. Gleichzeitig beträgt allein das Reisebudget der UN 2,3 Milliarden! Eine längerfristige Lösung muss drei Elemente enthalten: Freiwillige Rückkehr, Umsiedlung und Integration vor Ort. Beim Thema Umsiedlung muss man wissen, dass Staaten wie die Türkei oder Uganda die Hauptlast tragen, nicht der Westen.
Und drittens der Punkt Entwicklung: Jeder Mensch sollte die gleichen Chancen haben. Und in der heutigen Zeit geht das nur durch Bildung und Technologie. Wir müssen das Internet in jeden Winkel der Welt bringen – um das zu wissen, braucht es keine Expertengruppe, wie sie der aktuelle Generalsekretär eingesetzt hat. Momentan hat knapp die Hälfte der Weltbevölkerung wenig oder keinen Zugang zum Internet. Trotzdem schaffen wir es bis zum Mars. Stellen Sie sich einmal vor, zu was wir imstande wären, wenn die ganze Welt Internet hätte!
Die UN schreibt sie die Gleichheit der Geschlechter auf die Fahnen, seit der Gründung gab es aber noch keine Generalsekretärin. Warum ist das so?
Meistens sind es einfach nur Lippenbekenntnisse und auf die Worte folgen keine Taten. Das gilt nicht nur für Geschlechtergleichheit. Aber das wird sich ändern, denn die Mitgliedstaaten haben dieses Mal mit mir als Kandidatin eine echte Alternative. Natürlich ist das ein Test für mich, aber es ist ein härterer Test für die UN: Meinen wir wirklich Diversität und Inklusion, wenn wir über Gleichheit und über das Potential der Jugend reden? Aber ich vertraue darauf, dass wir diesen Test bestehen. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist unter 30. Sie setzen ihre Hoffnung in uns.
Die UN sind nicht nur das Sekretariat in New York, sondern auch die Mitgliedsstaaten. Sie meinen, fehlende Fortschritte seien nicht deren Schuld, sondern die des Generalsekretärs. Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?
Natürlich gibt es Staaten, die nur ihre Interessen verfolgen. Aber schlussendlich müssen sie alle miteinander reden. Und die zehn gewählten Mitglieder sind sehr einflussreich, die ständigen Mitglieder zu überzeugen. Zum Beispiel Syrien: Humanitäre Korridore wurden ermöglicht, aber konnten die UN liefern? Nein! Weil es zu wenig Geld und Ressourcen gab, und das Leid ging weiter. Wir leben in einer Sphäre, wo niemand mehr nach dem Leiden der Menschen fragt. Das klingt nicht sehr glamourös, vielleicht verwende ich nicht die richtigen Modewörter. Meine Botschaft ist sehr einfach: Wir müssen umsetzen, was wir uns vorgenommen haben.
Wir müssen uns wieder daran erinnern, warum die Position des Generalsekretärs bei der Gründung als „Chief Administrative Officer“ (in etwa: Oberster Verwaltungsbeamter) bezeichnet wurde: Weil es um die Umsetzung geht. Es braucht jemand, der Ergebnisse liefert. Aber alle neun Generalsekretäre hatten das gleiche Profil, ihre Kernkompetenz war Reden. Und so haben wir mittlerweile kilometerweise Berichte. Ich bin hier um zu sagen: Wir müssen zu unseren ursprünglichen Werten und den Menschen zurück! Wenn in den Flüchtlingslagern alle Menschen Internet hätten, wären das die größten Influencer, das versichere ich ihnen.
Bislang wurden alle Generalsekretäre auch vom Sicherheitsrat nominiert. Denken Sie, dass Sie die Unterstützung der Mitgliedstaaten bekommen?
Es gibt keine Regel in der UN-Charta, die meine Kandidatur ausschließt, und entsprechend hat Volkan Bozkir, der Präsident der Generalversammlung, meine Bewerbung angenommen und mir versichert, dass der Auswahlprozess fair, transparent und offen sein wird. Das beinhaltet, dass alle Kandidatinnen und Kandidaten die Gelegenheit bekommen, sich den Mitgliedstaaten vorzustellen. Das sollte im Mai oder Juni geschehen. Ich bin mir sicher, dass ich dann eine Mehrheit der Staaten von mir überzeugen werde. Denn diesmal steht sehr viel auf dem Spiel, viel mehr als „Business as usual“. Es geht um Menschenleben und darum, ob wir die Werte von Gleichheit und Demokratie, die wir predigen, auch selber praktizieren.
Sie kommen aus einer Familie mit Fluchterfahrung. Wie hat Ihr Hintergrund Ihre Werte und Ziele geprägt?
Alle meine Großeltern waren Flüchtlinge. Sie mussten hart arbeiten, um über die Runden zu kommen und ihren Kindern Bildung zu ermöglichen. Ein wichtiger Wert für mich ist daher harte Arbeit. Meine Mutter zum Beispiel hat vier Stunden vor meiner Geburt noch auf der Station eines Krankenhauses gearbeitet. Ein weiterer Wert für mich ist Bildung für jede und jeden: Sie ermöglicht, seine Träume zu realisieren und wirtschaftlich unabhängig zu werden. Bildung sorgt für mehr Gleichheit. Ich habe das Glück gehabt, das zu erfahren und möchte das gerne weitergeben.
Und zuletzt Gleichberechtigung: Mein Vater hat meinen Bruder nie bevorzugt, für ihn war es selbstverständlich, uns gleich zu behandeln. Darum kandidiere ich in dieser Wahl: Normale Angestellten, die junge Generation, diejenigen, die nicht wählen können, müssen gleichberechtigt sein. Seit meinem Unfall bin ich sehr ungeduldig geworden. Ich will im Leben meiner Mitmenschen eine Spur hinterlassen.
Interview: Timon Mürer