Debatte: Frieden und Sicherheit – der Kernauftrag der Vereinten Nationen
Der UN-Zukunftspakt bekräftigt, dass gemäß den Verpflichtungen des internationalen Rechts - einschließlich der UN-Charta, ihrem Auftrag und ihren Grundsätzen - gehandelt wird. Doch die Sprache zur UN-Charta bleibt im Allgemeinen. Die Gleichstellung der Bestimmungen der Charta mit den Bestimmungen von internationalen Verträgen ist ungefähr so, als wenn man eine nationale Verfassung den nationalen Gesetzen gleichstellt. Aber die Bestimmungen der Verfassung geben die Leitlinien für Gesetze und politisches Handeln vor. Ähnlich ist es, oder müsste es, mit der UN-Charta und internationalen Verträgen und Konventionen sein.
Die UN-Charta erkennt an, dass es Konflikte und militärische und gewaltsame Bedrohungen gibt. Im Kapitel VI werden die Schritte beschrieben, die vom Sicherheitsrat gegangen werden müssen im Falle einer Bedrohung des internationalen Friedens. Dabei ist es nicht die Aufgabe des Sicherheitsrats, den Konflikt zu vermeiden oder zu beenden, sondern es ist seine Aufgabe, Schritte zu identifizieren, die zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes durch die Konfliktparteien führen. Die Vorschläge des Sicherheitsrats sind bindend für die Konfliktparteien und ihre Unterstützer wie auch für alle anderen UN-Mitgliedstaaten (Art. 25). Im Falle, dass ein Mitglied des Sicherheitsrats Konfliktpartei ist, kann sein Vertreter nicht an der Abstimmung des Rates teilnehmen (Art. 27.3). Mit anderen Worten, hätten die Mitglieder des Sicherheitsrates sich entschieden, den Angriff Russlands auf die Ukraine nach Kapitel VI zu behandeln, hätte Russland kein Veto einlegen können.
Im Konflikt zwischen Israel und der Hamas gibt es in der UN-Charta klare Bestimmungen. Laut Art. 51 hat jeder Mitgliedstaat das Recht auf Selbstverteidigung, und jedes Volk das Recht auf Selbstbestimmung (Art. 1.2). Aber das Recht auf Selbstverteidigung besteht nur uneingeschränkt, solange der Sicherheitsrat keinen Beschluss gefasst hat, wie der Konflikt beendet werden kann. Spätestens seit der einstimmigen Resolution 2735 des Sicherheitsrates vom 10. Juni 2024 hätten Israel und die Hamas einen Waffenstillstand vereinbaren müssen.
Die Gründe für die Nichtbeachtung von Beschlüssen des Sicherheitsrates sind vielschichtig. Hier nur einige Hinweise darauf, wie die Autorität der Vereinten Nationen gestärkt werden könnte. Dass sie gestärkt werden muss, wird in der heutigen, multipolaren Welt eigentlich nicht bezweifelt. Nur alle Großmächte verhalten sich abwartend, denn niemand will in der Zurückstellung von nationalen Interessen voreilig sein. Russland ist sogar bereit, noch weiter zu gehen, und nationales Interesse dem allgemeinen internationalen und globalen Interesse eine höherrangige Bedeutung zu geben. Dies widerspricht den Bestimmungen der UN-Charta. Der Generalsekretär und die Generalversammlung sind jetzt gefordert, den grundsätzlichen Dissens der von Russland angeführten Allianz von 15 Mitgliedstaaten zu überwinden.
Eine Kultur des politischen Kompromisses
Dazu müssen wir eine internationale Kultur des politischen Kompromisses wieder beleben. Wir haben zwar die Ambition, Win-win-Lösungen zu finden, nur, wie sähen diese im Falle des Konflikts zwischen Russland und Ukraine, zwischen Israel und den Palästinensern aus? Nicht nur der Sicherheitsrat, sondern andere Gremien sind hier gefordert, durch eine tiefgreifende Analyse die Wurzeln der Konflikte freizulegen, um dann einen Verhandlungsprozess der Konfliktparteien zu ermöglichen. Die Konfliktursachen müssen Schritt für Schritt mit Geduld und Ausdauer beseitigt werden. Dabei muss der Sicherheitsrat darüber wachen, dass alle Parteien gleichbehandelt werden. Denn es gibt nur einen Weg zum internationalen Frieden: die Interessen aller Beteiligten sind gleichwertig zu beachten und zu behandeln.
Was in der heutigen Politik besonders fehlt, ist die in der UN-Charta beschriebene Toleranz und der Respekt für die historisch gewachsene Andersartigkeit der Länder. Nicht nur die Regierungen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger in allen Ländern folgen unterschiedlichen Grundvorstellungen. Die Herausforderung ist, diese zu achten, und trotzdem zum gemeinsamen Handeln zu finden.
Da die UN nach wie vor für die Mehrzahl der Länder attraktiv sind, sollten wir dies nutzen, um das System der Vereinten Nationen neu aufzustellen. Der Pakt für die Zukunft kann ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein, aber noch wichtiger wäre die Einberufung einer Generalkonferenz nach Art. 109 der Charta. Doch dazu muss der oben genannte Dissens erst einmal auf- und abgearbeitet werden.
Kerstin Leitner, DGVN-Präsidium