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Menschenrechte in Gefahr: Europarat setzt weiterhin auf Zwangspsychiatrie

Vermeintlich gilt: Wer infolge psychischer Krisenzustände andere oder sich selbst gefährdet, kann gegen den eigenen Willen in die Psychiatrie eingewiesen werden. Was auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als äußerst kompliziert.

Viele bunte Hände, die sich aufeinander zu bewegen
(Illustration: Gerd Altmann / CC0 1.0 Universal)

Gefährdet der an Schizophrenie erkrankte Obdachlose, der sich weigert, seine infektiöse Wunde behandeln zu lassen, sich selbst? Stellt die Nachbarin, die in einer manischen Phase immerzu vergisst, das Wasser in ihrer Wohnung abzudrehen, eine Bedrohung der Mieterinnen und Mieter unter ihr dar? Die Gesetzgebung legt selten präzise fest, ab welchen Zeitpunkt genau ein selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten vorliegt. Dementsprechend groß ist der Ermessensspielraum, der Ärztinnen, Polizisten und Pflegepersonal eingeräumt wird. Oft mutet die Auslegung willkürlich an. So gibt es beispielsweise Psychiatrien, worin die Zwangsfixierung von Patienten als letztes Mittel gilt und äußerst selten zur Anwendung kommt. Bei anderen Einrichtungen ist diese dagegen integraler Bestandteil der alltäglichen Behandlungspraxis.

Im Hinblick auf die Wahrung und Einhaltung der Menschenrechte erweisen sich Zwangseinweisung und -behandlung als höchst problematisch und kommen weltweit immer weniger zum Einsatz. Um so erstaunlicher mutet deshalb ein im Mai 2021 vorgelegter Entwurf des Europarats an. Dieser räumt im Zuge des Oviedo-Übereinkommens, das eigentlich den Schutz vor missbräuchlicher medizinischer und wissenschaftlicher Behandlung innerhalb Europas gewährleisten soll, Zwangsmaßnahmen erneut eine zentrale Stellung ein. In der Folge hagelte es Kritik seitens UN und Menschenrechtsorganisationen.

Schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte

Das Ausüben von Zwang und Gewalt ist dabei tief in der Geschichte medizinischer und psychiatrischer Institutionen verwurzelt. Menschen in gesund oder krank und verrückt einzuteilen, diente nie einem ausschließlich wohltätigen Zweck. Es legitimierte zugleich den Zugriff des Staates auf das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger. Seinen traurigen Höhepunkt fand diese Verwicklung in Nazideutschland. Im Zuge der Euthanasie wurden etwa 216.000 Menschen auf Basis einer diagnostizierten Behinderung oder Erkrankung ermordet. Doch auch in anderen Staaten wurde Gewalt gegenüber Menschen mit psychischen Behinderungen und Lernschwierigkeiten ausgeübt, wie es nicht zuletzt die noch bis in die 1980er Jahre angewandten Behandlungsmethoden der Elektroschocks und Lobotomien aufzeigen. Erst seit den 1960er Jahren wurden Zwang und Gewalt innerhalb medizinischer und psychiatrischer Institutionen zunehmend in Frage gestellt.

Auch seitens der UN wird seit Jahren auf die damit verbundenen Verstöße gegen die Menschenrechte hingewiesen. So werden laut dem UN-Menschenrechtsrat bei medizinischen und therapeutischen Interventionen insbesondere die Menschenrechte von Menschen mit Lernschwierigkeiten und psychischen Behinderungen oftmals schwerwiegend verletzt. Dies wurde bereits in der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Nach der UN-BRK verstößt es vor allem gegen das (Menschen-)Recht auf Selbstbestimmung, Menschen aufgrund ihrer Behinderung zwangszubehandeln und die Freiheit zu entziehen. Demnach dürfen Maßnahmen gegen den Willen der Person nur im äußersten Fall zur Anwendung kommen und erst nachdem alle anderen Mittel erfolglos geblieben sind (Artikel 14). Außerdem muss geprüft werden, inwieweit bestehende gesetzliche Regelungen nicht bereits ausreichend sind und damit eine rechtliche Sonderstellung von psychisch behinderten Menschen eine Diskriminierung darstellt (Artikel 12). Die Gefährdung des Wohls anderer Menschen reicht als Grundlage für eine polizeiliche Intervention aus, wie sie zum Beispiel bei dem jüngst verübten Attentat in Würzburg nötig war.

Alternativen zu Zwang und Gewalt

Doch wie ist es möglich, Menschen, die nicht oder nur sehr eingeschränkt eine Einwilligung zu therapeutischen Interventionen geben können, dennoch den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen? Schließlich stellt dies ebenfalls ein Menschenrecht dar, das insbesondere angesichts des ökonomischem Effizienzdrucks auf die Gesundheitssysteme immer wieder neu erkämpft werden muss. Doch zeigen sich bereits Alternativen, wie im  Bericht über alternative Behandlungsmethoden zur Zwangspsychiatrie der University of Melbourne sichtbar wird, der 2018 im Auftrag des UN-Sonderberichterstatter zu den Rechten von Behinderten erstellt wurde. Dabei wurde zunächst offenkundig, dass eine Vielzahl von Zwangsmaßnahmen keinen oder nur sehr geringen therapeutischen Nutzen hätten, wie es beispielsweise auch eine Studie aus Deutschland zur Zwangsunterbringung suizidgefährdeter Menschen nachwies. Dies ist besonders eklatant, weil die Zwangsmaßnahmen in der Regel nur im Verweis auf deren therapeutischen Nutzen rechtlich durchsetzbar sind.

Ein alternatives Konzept zu geschlossenen Abteilungen in Psychiatrien wurde in einer Studie am San Giovanni Spital in Triest untersucht. Auf Maßnahmen gegen den Willen der Betroffenen wurde wie bei den sogenannten Weglaufhäusern verzichtet. Weglaufhäuser bewähren sich schon seit den 1980er Jahren als Anlaufstelle für Menschen in akuten psychischen Krisenzuständen, die sich dort auf freiwilliger Basis Hilfe holen können, ohne sich sofort dem medizinischen und bürokratischen Apparat ausliefern zu müssen. In dem Modellprojekt in Italien stand dabei weniger die Behandlung von psychischen Krankheiten als eine dauerhafte Unterstützung der Betroffenen und ihrer Angehörigen im Fokus. Dabei erübrigt sich der Einsatz von Gewalt und Zwang oftmals schon durch eine langfristige Betreuung und Unterstützung. So ist es doch gerade bei psychotisch erkrankten Menschen wichtig, ein möglichst beständiges und haltgebendes Netz an Unterstützungsstrukturen aufzubauen.

Zwei Schritte vor – und in Europa einer zurück

Nicht zuletzt aufgrund des Engagements zivilgesellschaftlicher Akteure und von Menschenrechtsorganisationen lassen sich vielerorts Fortschritte und alternative Lösungen zur Zwangsunterbringung und -behandlung ausmachen. So haben mittlerweile 182 Staaten die UN-BRK ratifiziert und die Rechte von Menschen mit Behinderung werden in allen Unterbereichen der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der UN explizit genannt. Allerdings ist das alte System längst noch nicht überwunden, wie es am jüngst vorgelegten Entwurf des Europarats einzusehen ist. Schließlich wird in dem Zusatzprotokoll des Übereinkommens den 47 Mitgliedstaaten des Europarats weiterhin das Recht zugesprochen, Menschen gegen ihren Willen unterzubringen und therapeutisch zu behandeln.

In der Folge forderte am 28. Mai 2021 der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit vier weiteren UN-Menschenrechtsexperten den Europarat dazu auf, den Entwurf zurückzunehmen und der Abstimmung im Juni zu entziehen. Das Papier stehe im Widerspruch zu den geltenden Prinzipien und Regelungen der Menschenrechte. So hätten Individuen mit psychosozialen Behinderungen das Recht in der Gemeinschaft zu leben und sich gleichzeitig einer medizinischen Intervention zu entziehen. Nochmals wurde auf die beschädigenden Auswirkungen von Zwangsmaßnahmen hingewiesen, die in der Regel als äußerst schmerzhaft, erniedrigend oder traumatisch von den Betroffenen erlebt werden. Und schließlich werden durch das Vorgehen des Europarats die Reformen torpediert, die bereits vielerorts auf den Weg gebracht worden seien.

Die Kritik zog bereits einen ersten Erfolg nach sich: die Abstimmung über das Protokoll wurde auf November 2021 verschoben. Es ist jedoch nicht allein eine rechtliche, sondern insbesondere eine ökonomische Frage, inwieweit sich das alte System der Zwangspsychiatrie überwinden lässt. Schließlich sind alternative Behandlungsmethoden, die vor allem auf langfristige Begleitung und Unterstützung statt auf akuten Kriseninterventionen setzen, mit höheren Kosten verbunden. Hierfür braucht es eine Gesundheitspolitik, die nicht die Kosteneffizienz, sondern das Wohl jeder einzelnen Person als oberstes Ziel hat.

Elias Nies


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