Mit Sorghumhirse und Moringa-Blätter gegen die Ernährungskrise in Niger
Dicht stehen knallig grüne, orange und blaue Plastikeimer um zwei große Töpfe. Außen tiefschwarz vom Ruß des Feuers, innen silbrig-hell, dampft darin ein Bohneneintopf. Es ist Mittagszeit im südnigrischen Dorf Rafa. Routiniert schöpfen ein Mann und eine Frau den Eintopf mit einer großen Kelle in die Eimer. Im Schatten eines Strohdachs sitzen etwa 30 Frauen im Schneidersitz, viele mit kleinen Kindern.
Sie nehmen teil an einem Kurs des Welternährungsprogramms, wie er hier seit 2019 stattfindet. Dabei sollen Eltern von Kindern zwischen sechs Monaten und sechs Jahren lernen, wie sie diese am besten ernähren. Und das auch mit nahrhaften Produkten vom eigenen Feld oder lokalen Märkten, etwa Getreide wie Sorghumhirse oder Blättern der Moringa-Bäume. Hygiene und der Einsatz von Moskitonetzen sollen ebenfalls vermittelt werden. In Rafa zeigten die Kurse bereits nach einem Jahr Erfolge: Keines der Kinder war mehr mangelernährt.
Mehr als 12 Prozent der Kinder akut mangelernährt
Doch anderswo im Niger, einem der ärmsten Länder weltweit, ist die Lage laut Welthunger-Index ernst. Im Jahr 2022 lag das Land auf Platz 115 von 121. Die Ernährung von gut vier Millionen der 26 Millionen Menschen ist nicht sicher. Mehr als 12 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind akut mangelernährt, ihr Körpergewicht liegt 80 Prozent unter dem für ihr Alter angemessenen. Zudem wächst die Bevölkerung von 26 Millionen Menschen rasant. Eine Frau bekommt im Schnitt 6,6 Kinder.
Jean-Noël Gentile leitet das WFP im Niger. Er lädt in sein Büro in Niamey mit dunklen Holzmöbeln. „2022 gab es eine Ernährungskrise hier im Niger, die so groß war wie seit 20 Jahren nicht mehr. Das Land hatte im Vorjahr nur 80 Prozent seines Bedarfs selbst produziert, wohingegen wir 2020 noch einen Überschuss sahen.“ Doch den Ärmsten fehlt das Geld für ihr Essen. „Die Preise gehen seit 2020 durch die Decke. Der Krieg gegen die Ukraine hat das noch verschärft, auch wegen gestiegener Transportkosten.“
Wie ein ‚Leuchtturm-Vater‘ Verantwortung übernimmt
Im Dorf Rafa erzählt der Mann, der gerade noch das Essen verteilt hat, was es mit dieser Versammlung auf sich hat und warum er, Maman Amadou, sich als einziger Mann unter all die Frauen mischt: Er ist Landwirt, 42 Jahre alt und hat neun Kinder mit seinen zwei Frauen. Lange hielt er sich bei Aufgaben im Haushalt oder bei der Kindererziehung zurück. „Ich habe Anweisungen erteilt“, sagt er. Eine Idee, was genau dann zu tun war, hatte er nicht. „Eines Tages war ich allein mit den Kindern zu Hause, als eines zu weinen begann“, erinnert er sich. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, daher habe ich eine Frau, die an den Ernährungskuren teilnahm, um Rat gefragt. Sie erklärte mir, was ich ihm genau geben und wie ich es beruhigen könnte.“ Als er merkte: „Ich kann das auch“, bat er, teilnehmen zu dürfen. „Durch die Workshops habe ich gelernt, wie wichtig es ist, als Vater mehr mitzuhelfen und wie das geht. Jetzt übernehme auch ich Verantwortung für meine Kinder.“ Er genießt die Begeisterung der Mütter, die immer wieder applaudieren, während er erzählt.
'Leuchtturm-Vater' wird er nun offiziell im Programm-Jargon des WFP genannt. Wenn er abends mit anderen Männern Tee trinkt, erzählt er hin und wieder davon. „Mittlerweile haben fünf andere Interesse angemeldet, zwei sind jetzt auch Leuchtturm-Väter.“ Seine Frauen seien jedenfalls sehr zufrieden mit ihm. Auf dem Feld arbeite er weiterhin. „Ich plane meine Tage viel besser, damit ich Zeit für die Kinder habe.“ Tatsächlich empfiehlt auch eine qualitative Studie für das UN-Kinderhilfswerk (United Nations Children’s Fund - UNICEF), Väter stärker einzubeziehen, „da sie eine wichtige Rolle bei der Planung und Verwaltung der Ressourcen für die Ernährung spielen“.
Hauptaufgaben liegen noch bei den Müttern
Doch noch sind es vor allem die Mütter, auf die es ankommt. Unweit von Amadou sitzt Hinda Abdou, eine 'Leuchtturm-Mutter', denn keines der sechs Kinder der 40-Jährigen war mangelernährt. Sie soll in dem Programm nicht nur ihre Erfahrungen teilen und Tipps geben, sondern lernt auch selbst noch dazu. Sie trägt einen langen fliederfarbenen Hijab aus feinem Stoff. Auf dem Schoß sitzt eine ihrer Töchter, die sich gerade einen der Messbecher geschnappt hat, die in den Kursen eingesetzt werden. Laut donnert sie damit auf die gewebte Kunststoffmatte unter sich. Abdou sagt: „Am Anfang habe ich meine Kinder gestillt, aber ich wusste nicht, wie ich danach ihr Essen vielfältiger gestalte.“ Jetzt kennt sie neue Rezepte und weiß, wie viel ihre Kinder genau morgens, mittags und abends brauchen. Vor ihr auf dem Boden liegt ein Hefter, daneben ein Maßband in drei Farben: rot, gelb und grün. Um den Oberarm gelegt zeigt es an, ob das Kind gesund ernährt ist oder zu dünn – und notfalls medizinische Hilfe braucht.
Raffaella Policastro leitet die Resilienz-Programme des WFP in Niger. „Wir arbeiten hier schon lange zu Mangelernährung und haben früher vor allem Gesundheitszentren unterstützt.“ Doch die Lage verbesserte sich nicht genug. „Also haben wir uns gefragt: Brauchen wir etwas anderes?“ 2018 startete das WFP zusätzlich die Präventionskurse. „Wir identifizieren alle Mütter, die keine mangelernährten Kinder hatten, und fragen sie: Was habt ihr anders gemacht?“
Ihre Erfahrungen, Rezepte und Hygienemaßnahmen sollten als Vorbild für andere dienen. Policastro: „In den Gegenden, die 2022 am stärksten von der Dürre betroffen waren, haben 840 Gemeinden an unserem Resilienzprogramm teilgenommen – 80 Prozent von ihnen kamen ohne zusätzliche Nahrungsmittel-Nothilfen aus.“
Warum es noch mehr braucht
Dass der Ansatz sinnvoll ist, schätzt auch Frank Bliss. Der Professor für Entwicklungsethnologie an der Universität Hamburg arbeitet als freier Gutachter für internationale Organisationen und hat seit den 1980ern vor allem Westafrika im Blick. „Solche Kurse können nach ein paar Jahren zu einem Selbstläufer werden, wenn Eltern gelernt haben, was gesund ist für ihre Kinder und es noch dazu im eigenen Garten anbauen oder in der Natur sammeln und dann in den Speiseplan aufnehmen.“ Dennoch brauche es mehr, um langfristig Mangelernährung zu bekämpfen: „Ein starkes Gesundheitssystem etwa und entsprechende Infrastruktur, um Mütter gerade in den entscheidenden ersten tausend Tagen nach der Geburt zu unterstützen. Doch da sieht es im Niger schlecht aus.“ Zudem betont er: „Das WFP müsste noch viel stärker mit anderen Organisationen und dem nigrischen Staat zusammenarbeiten.“
Und: Nicht in allen Dörfern gibt es Leuchtturm-Väter wie Amadou, die sich einbringen. Die größte Last liegt meist auf den Schultern von Frauen, die weniger Mittel und Handlungsspielraum haben. Auch das WFP bilanziert: Von den 140 000 Menschen, die 2021 an den Kursen teilnahmen, waren nur 30 Prozent Männer. Immerhin: Es ist ein Anfang.
Astrid Ehrenhauser
Dies ist eine geänderte und gekürzte Fassung des Artikels „Dreizehntausend Halbmonde“ von Astrid Ehrenhauser für das Magazin Good Impact, Ausgabe 02-2023.
Hinweis: Dieser Beitrag entstand im Rahmen der DGVN-Recherchereise „Humanitäre Hilfe in Niger“. Um einen Beitrag zu einem differenzierteren Bild über die weltweiten Aufgaben und Herausforderungen der Vereinten Nationen zu leisten, bot die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) im November 2022 eine einwöchige Informations- und Recherchereise für an. Dafür reiste eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten vom 6.-12. November 2022 nach Niger in die Tillabéri-Region mit der Hauptstadt Niamey und dem Ort Simiri.