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Wer satt wird, kommt wieder

Wie ein tägliches Essen in der Schule dazu beitragen soll, das rasante Bevölkerungswachstum in Niger zu bremsen.

Eine Klasse von Schulkindern sitzt an Tischen in einem improvisierten Zelt aus Stroh und zeigt seine blauen Unicef-Rucksäcke.
36 000 Klassen sollen laut dem Plan der Regierung in richtige Schulhäuser umziehen. (Foto: Patrick Rosenow)

Erst kommt die Moral, dann das Essen. Zumindest gilt das an diesem Montag Anfang November für die Schulkinder in einem Flüchtlingslager nahe Ouallam im Westen Nigers. Im Unterricht geht es um "morale", die Lehrerin hat das Wort an der Tafel unterstrichen. Genauer: um Freundlichkeit. "Ich muss freundlich sein zu meinen Mitschülern und zu älteren Personen", lautet die Lektion des Vormittags.

Das Klassenzimmer ist streng genommen kein Zimmer, sondern ein Verschlag aus Holz und Stroh, ohne Tür und an den Seiten offen. Wenn es regnet, ist hier kein Unterricht möglich. Fragt man die Lehrerin Haoua Issaka, was sie sich wünschen würde für ihre Klasse, antwortet sie: Wände. Aber jetzt scheint die Sonne und ungefähr 40 Kinder drängen sich in die Bänke, die Ellbogen auf hellblaue Rucksäcke des Kinderhilfswerks (United Nations Children's Fund - UNICEF) gestützt, die nackten Füße im Sand. Für nigrische Verhältnisse ist das eine kleine Klasse, und das ist auch gut so: Die Kinder sind mit ihren Familien vor dem Terror im Grenzgebiet zu Mali und Burkina Faso geflohen, manche haben ihre Eltern verloren, viele sind traumatisiert und müssen sich erst an die Schule gewöhnen.

Als der Unterricht vorbei ist für diesen Vormittag, gibt es Mittagessen. Große silberne Schüsseln mit Reis stehen zur Abholung bereit, die Kinder ziehen sich in den Schatten der Bäume zurück und essen mit den Händen. Der Reis ist mit einem Öl vermischt, das die Vitamine A und D enthält und aus weißen Kanistern mit dem Logo des Welternährungsprogramms (World Food Programme - WFP) kommt. Das WFP hat die Schulkantine vor eineinhalb Jahren aufgebaut. Wer satt wird, kommt wieder, das ist die Idee. Und dass die Kinder wiederkommen in die Schule, das ist nicht nur im Flüchtlingslager von Ouallam das große Ziel.

Priorität: Zugang zu Schulen verbessern

Mehr als die Hälfte der jungen Menschen in Niger kann nicht lesen und schreiben, die Analphabetenquote unter den 15- bis 24-Jährigen beträgt laut UNICEF 57 Prozent. Bei Mädchen und jungen Frauen sind es fast zwei Drittel. Die Regierung in der Hauptstadt Niamey, eine Autostunde südlich von Ouallam, hat Bildung und besonders die Bildung von Mädchen zu einem ihrer wichtigsten Projekte gemacht. Im Kabinett verwalte er das größte Budget, berichtet Bildungsminister Ibrahim Natatou bei einem Gespräch in seinem Ministerium, mehr als 20 Prozent des Gesamthaushalts. Das ist mehr als doppelt so viel als etwa in Deutschland.

Die wichtigste Aufgabe seines Ministeriums, sagt Natatou, bestehe darin, den Zugang zur Schule zu verbessern. Derzeit kämen auf vier Millionen Kinder und Jugendliche, die in die Schule gehen, fünf Millionen, die nicht in die Schule gehen, obwohl sie es müssten. In der Statistik fallen sie unter die Rubrik "Out of school". Gründe gibt es dafür viele. Kinder und Jugendliche müssen bei der Ernte helfen, die Schulen sind zu weit von ihren Dörfern entfernt, Mädchen heiraten und bekommen Kinder, statt weiter in die Schule zu gehen. Fast 80 Prozent der Mädchen werden vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet, kritisierte Nigers Präsident Mohamed Bazoum vergangenes Jahr in seiner Rede zur Amtseinführung, fast 30 Prozent sogar, bevor sie 15 sind.

Ohne Schuldach ist Unterricht in der Regenzeit nicht möglich

Dazu kommt: Nicht nur in Flüchtlingslagern haben die Schulen keine Wände. Fast 40 Prozent der Klassen im Land lernen wie in Ouallam unter Strohdächern, "en paillote", wie Natatou auf Französisch sagt. In der Regenzeit von Juli bis Oktober ist in diesen Klassen oft kein Unterricht möglich, was die kostbare Schulzeit weiter verkürzt.

Die Regierung hat sich eine Reihe von Maßnahmen vorgenommen, um mehr Kinder und Jugendliche und besonders mehr Mädchen in die Schule zu bringen. 36 000 Klassen sollen in echte Schulhäuser umziehen, neue Schulen auf dem Land gebaut und Internate für Mädchen eröffnet werden, wo sie sich aufs Lernen konzentrieren können und nicht abgelenkt werden. Natatou schwört auf den 'Internat-Effekt', er war selbst auf einem, ebenso wie der Präsident und der Premierminister.

Und dann ist da schließlich noch das Schulessen, das dafür sorgt, dass der Schulbesuch der Kinder für die Familien nicht nur eine Investition in die Zukunft ist: Als Ersatz für eine Arbeitskraft weniger bekommen sie einen vollen Magen mehr. Fünf Milliarden CFA-Franc - die westafrikanische Gemeinschaftswährung - will Nigers Regierung in diesem Jahr ausgeben für die Mahlzeiten in der Schule, knapp acht Millionen Euro. Doch das reicht längst nicht, sagt Natatou, um jeden Tag alle Schülerinnen und Schüler mit Essen zu versorgen, dafür bräuchten sie viermal so viel. Er hofft deshalb auf Hilfen aus dem Ausland - und auf das WFP.

Bevölkerungswachstum birgt Potenzial und Probleme

Die Regierung verfolgt mit ihrer Bildungspolitik zwei Ziele, die direkt miteinander zusammenhängen: Sie will einerseits die Chancen besser nutzen, die das rasante Bevölkerungswachstum im Land mit sich bringt - und dieses Bevölkerungswachstum andererseits bremsen. In keinem Land der Welt bekommen Frauen so viele Kinder wie in Niger, 6,6 sind es im Schnitt. Die Folge ist eine weltweit fast einmalig junge Bevölkerung - der Altersschnitt beträgt etwa 15 Jahre -, die rein demografisch den wirtschaftlichen Aufschwung tragen könnte, nach dem sich das Land sehnt. Doch ohne Bildung lässt sich dieses Potential nicht nutzen.

Insgesamt aber überwiegen die Probleme, die das Bevölkerungswachstum Niger beschert. Das Land kommt mit dem Schulbau nicht hinterher, für die vielen Menschen gibt es weder genug Arbeitsplätze noch genug Land. Konflikte sind die Folge, zwischen Hirten und Bauern etwa, von denen am Ende vor allem die seit Jahren stärker werdenden Terrormilizen profitieren. Geburtenkontrolle ist also auch eine Frage der nationalen Sicherheit. Doch weil Verhütung im Land kaum bekannt ist, kommt den Schulen dabei eine Schlüsselrolle zu - als bestes Argument, um mit der Familienplanung noch ein paar Jahre zu warten. Etwas verkürzt gesagt: Eine Schüssel Reis in der Schulkantine in einem Flüchtlingslager in Ouallam kann dazu beitragen, das Bevölkerungswachstum in Niger zu bremsen und das Land ein bisschen sicherer zu machen. Wer satt wird, kommt wieder.

Paul Munzinger

Dieser Beitrag erschien in veränderter Fassung am 26.11.2022 in der Süddeutschen Zeitung.

Hinweis: Dieser Beitrag entstand im Rahmen der DGVN-Recherchereise „Humanitäre Hilfe in Niger“. Um einen Beitrag zu einem differenzierteren Bild über die weltweiten Aufgaben und Herausforderungen der Vereinten Nationen zu leisten, bot die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) im November 2022 eine einwöchige Informations- und Recherchereise für an. Dafür reiste eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten vom 6.-12. November 2022 nach Niger in die Tillabéri-Region mit der Hauptstadt Niamey und dem Ort Simiri.


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