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Weltbevölkerungsbericht 2022: Die Krise unbeabsichtigter Schwangerschaften

Jede Schwangerschaft sollte gewollt sein, so die Idealvorstellung des Weltbevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA). Doch die Realität sieht anders aus: Fast die Hälfte aller Schwangerschaften sind nicht beabsichtigt.

Vor einigen Zuhörerinnen auf Stühlen steht eine weißbekleidete Frau und zeigt auf Poster, die detaillierte Innenansichten von menschlichen Geschlechtsorganen zeigen.
Ein Seminar über Familienplanung in Paktistan, ausgerichtet von UNFPA. (UN Photo/B. Wolff)

Weltweit sind 121 Millionen Schwangerschaften pro Jahr ungeplant. Die betroffenen Frauen und Mädchen hatten nicht die Wahl, schwanger zu werden oder nicht. Scham, Angst, Armut oder Benachteiligung verhindern, dass sie selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Oft sind auch Gewalt oder Nötigung im Spiel.

Unter dem Titel „Verborgenes sehen: Die Krise der unbeabsichtigten Schwangerschaften“ beleuchtet der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) in seinem neuen Weltbevölkerungsbericht 2022 die Bedingungen, die unbeabsichtigte Schwangerschaften begünstigen. Er nimmt auch die Folgen für ganze Gesellschaften in den Blick, die sich über Generationen hinweg auswirken können.

Verletzte Grundrechte

Das Grundrecht jeder Frau, selbst zu bestimmen, ob, wann und in welchen Abständen sie Kinder bekommen will, ist in vielen internationalen Übereinkommen verankert. In der Realität, so zeigt der Bericht, können viele Frauen jedoch immer noch nicht frei Verhütungsmittel erfragen und erhalten, mit ihrem Partner über Kondome verhandeln, Sex ablehnen, sich Gehör verschaffen und ihre eigenen Wünsche und Ziele verfolgen.

Sichere Verhütungsmittel und -methoden und die entsprechenden Informationen darüber sind nicht immer verfügbar. Hinzu kommen Stigmata und Tabus rund um Empfängnisverhütung oder die Angst vor Nebenwirkungen. In vielen Teilen der Welt herrschen weiter Normen und Werte vor, mit denen Frauen unter Druck gesetzt werden, um schwanger zu werden. Hinzu kommen Fälle von sexualisierter Gewalt, auf die ein großer Teil der unbeabsichtigten Schwangerschaften zurückgeht.

Unbeabsichtigt, ungewollt

Zwar heißt „unbeabsichtigt“ bei Schwangerschaften nicht in jedem Fall „ungewollt“. Doch in den meisten Fällen läuft es darauf hinaus, zum Beispiel wenn die Umstände nicht stimmen, der Zeitpunkt oder der Partner nicht der richtige ist, oder die schwangere Frau dadurch in eine Notlage gerät.

Die UN-Zahlen zeigen: Über 60 Prozent der Schwangerschaften, für die sich Frauen und Mädchen nicht bewusst entschieden haben, werden abgebrochen. 45 Prozent dieser Abtreibungen geschehen auf unsichere oder gar gefährliche Weise und sind mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden. Sie machen bis zu 13 Prozent aller Fälle von Müttersterblichkeit aus. Besonders gefährdet sind Jugendliche. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sind laut UNFPA die häufigste Todesursache bei 15- bis 19-jährigen Mädchen.

Zwar sei zwischen 1990 und 2019 der Anteil der unbeabsichtigten Schwangerschaften gesunken, stellt UNFPA fest und bringt dies auch mit Entwicklungsfortschritten in Verbindung. Doch eine entscheidende Rolle spielt dieGleichberechtigung.

Gemessen am Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) hätten in den Jahren 2015 bis 2019 Länder und Regionen mit mehr Ungleichheit – egal ob bei niedrigem, mittlerem oder hohem Einkommen – höhere Anteile unbeabsichtigter Schwangerschaften aufgewiesen.

Unbeabsichtigte Schwangerschaften in humanitären Krisensituationen

Auch Krisen wie die Corona-Pandemie und gewaltsame Konflikte verschlimmern die Lage. In den ersten zwölf Monaten der Pandemie mit zahlreichen Lockdowns waren Verhütungsmittel und Beratungsangebote nicht immer und überall verfügbar. Dies allein habe laut UNFPA weltweit zu 1,4 Millionen unbeabsichtigten Schwangerschaften geführt.

Gewaltsam ausgetragene Konflikte wie aktuell der Krieg in der Ukraine treiben die Zahl unbeabsichtigter Schwangerschaften ebenfalls in die Höhe. Auch in solchen Notlagen ist die Versorgung mit Verhütungsmitteln häufig unterbrochen und die Menschen verlieren ihren Zugang zu medizinischen Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.

„Wenn Sie 15 Minuten Zeit hätten, ihr Haus zu verlassen, was würden Sie mitnehmen?“ fragt UNFPA-Direktorin Natalia Kanem. „Würden Sie an Verhütungsmittel denken?” Und sie macht deutlich: „In den Tagen, Wochen und Monaten nach Beginn einer Krise retten Dienstleistungen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit Leben, schützen Frauen und Mädchen vor Leid und verhindern unbeabsichtigte Schwangerschaften. Sie sind so wichtig wie Lebensmittel, Wasser und Obdach.”

Nicht selten werden Vergewaltigungen sogar als Kriegswaffe eingesetzt. Studien zu humanitären Notlagen zeigen, dass etwa 20 Prozent der weiblichen Flüchtenden mit sexualisierter Gewalt konfrontiert werden. Nach einem Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über sexualisierte Gewalt in Konfliktsituationen geschehe dies systematisch in Afghanistan, der Zentralafrikanischen Republik, in Kolumbien, der Demokratischen Republik Kongo, im Irak, in Libyen, Mali, Myanmar, Somalia, im Südsudan, im Sudan, in Syrien und im Jemen. Die aktuelle Situation in der Ukraine ist im Weltbevölkerungsbericht 2022 noch nicht erfasst. Jedoch gibt es deutliche Hinweise darauf, dass sexualisierte Gewalttaten auch dort geschehen.

Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen

Wie die Folgen unbeabsichtigter Schwangerschaften aussehen können, beschreibt der Bericht eindrücklich: „Viele schwangere Mädchen werden zur Heirat gezwungen und/oder müssen die Schule verlassen, ohne irgendeine andere Möglichkeit, ihren Bildungsweg fortzusetzen. Dies führt oft zu lebenslangen Einkommenseinbußen. Viele Frauen verlieren mit einem Mal ihr Einkommen, wenn sie wegen einer Schwangerschaft gezwungen sind, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen oder sogar gänzlich aufzugeben. Wenn sie das Kind bekommen und ihre ohnehin schon knappen Finanzmittel aufzehren müssen, dann rückt die Armut näher.“ So stellen unbeabsichtigte Schwangerschaften nicht nur die Betroffenen vor gravierende Probleme, sondern hemmen auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung.

Der Weltbevölkerungsbericht ruft dazu auf, der Verhinderung unbeabsichtigter Schwangerschaften mehr Priorität zu geben. Verhütung müsse zugänglicher, akzeptierter, qualitativ hochwertiger und vielfältiger werden. Dienstleistungen und Informationen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit müssten verbessert werden, insbesondere auch in humanitären Krisen. Frauen und Mädchen müssten in ihrer Entscheidungsfähigkeit gestärkt werden.

Um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Gleichbehandlung der Geschlechter zu erreichen, müssen Frauen und Mädchen die Möglichkeit haben, Entscheidungen über ihre eigene Gesundheit, den eigenen Körper und die eigene Zukunft selbstbestimmt und informiert zu treffen. Die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen werde abgewertet, wenn Informationen und Dienstleistungen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit nicht in vollem Umfang finanziert und priorisiert werden. „An unbeabsichtigten Schwangerschaften zeigen sich die Prioritäten einer Gesellschaft“, heißt es in dem Bericht.

Von Christina Kamp

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