Menü

Boutros Boutros-Ghali (1922-2016)

Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen trauern um Boutros Boutros-Ghali, der am 16. Februar 2016 in Kairo verstorben ist. In den Würdigungen wird deutlich, dass der sechste Generalsekretär der Weltorganisation in einer äußerst schwierigen Phase nach dem Ende des Kalten Krieges sein Amt antrat.

Boutros Boutros-Ghali
Boutros Boutros-Ghali, UN-Photo

Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen trauern um Boutros Boutros-Ghali, der am 16. Februar 2016 in Kairo verstorben ist.

In den Würdigungen wird deutlich, dass der sechste Generalsekretär der Weltorganisation in einer äußerst schwierigen Phase nach dem Ende des Kalten Krieges sein Amt antrat. Generalsekretär Ban Ki-moon betonte, dass seine Amtszeit durch brutale Konflikte, unter anderem in Haiti, Somalia, Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien, gekennzeichnet war. Er wies darauf hin, dass die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung vieles seiner zukunftsweisenden intellektuellen Arbeit in den 1990er Jahren zu verdanken hat. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte fest, dass er die Vereinten Nationen „wie kaum ein anderer geprägt und auf neue Aufgaben und Anforderungen vorbereitet hat“. Unter Hinweis auf seine „Agenda für den Frieden“ sagte er weiterhin: „Doch Boutros Boutros-Ghali hat sich nicht auf theoretische Überlegungen beschränkt. Er hat für seine Ideen gekämpft, im Zweifel auch gegen Widerstand“.

Der Zusammenbruch des bipolaren Systems traf alle völlig unvorbereitet. An die Stelle einer von den USA postulierten „Neuen Weltordnung“ trat eine „Neue Welt-Unordnung“. Einerseits stieg die Nachfrage nach einem stärkeren Engagement der UN bei der Lösung regionaler, insbesondere intra-nationaler Konflikte dramatisch an, andererseits wurden den UN die dafür notwendigen Ressourcen an Personal und Finanzen nicht gewährt. Die USA als einzige übrig gebliebene Weltmacht entwickelte unilaterale Strategien, die sich deutlich von den multilateralen Anliegen des neuen Generalsekretärs unterscheiden sollten.    

Boutros Boutros-Ghali ist der bisher einzige Generalsekretär der Vereinten Nationen gewesen, der nach fünfjähriger Amtszeit (1992-1997) nicht wiedergewählt wurde, obwohl in einem Resolutionsentwurf, eingebracht von zehn Mitgliedern des Sicherheitsrats, darunter China, Frankreich, Russland und auch Deutschland, eine Wiederwahl für eine zweite Amtsperiode empfohlen wurde. Die Mitglieder des Sicherheitsrats stimmten mehrheitlich mit 14 Ja-Stimmen bei einer Nein-Stimme (USA) für die Wiederwahl des amtierenden Generalsekretärs. Das Veto der USA zwang jedoch den Sicherheitsrat, sich auf die Wahl eines neuen Generalsekretärs zu einigen.

Dieses Verhalten der USA ist zu erwarten gewesen. Boutros Boutros-Ghali war eine durchaus unbequeme, hochgradig intellektuelle, frankophile Persönlichkeit, die sich in ihrem Verhalten im Innen- und Außenverhältnis ausschließlich der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet fühlte und entsprechend unabhängig agierte. Einige kritisierten ihn als eitlen und herrschsüchtigen Menschen, der es vorzog, mit den Großen der Welt, die er aufgrund seiner vorherigen Tätigkeit im diplomatischen Dienst persönlich gut kannte, direkte Kontakte zu pflegen. Andere bezeichneten ihn als einen äußerst liebenswürdigen und höflichen Gesprächspartner, dessen Leitmotiv stets der Dienst im Geiste der UN-Charta gewesen ist.

Mit seinen scharfsinnigen Analysen über die zukünftige Rolle der Vereinten Nationen in einer sich seit dem Ende des Kalten Krieges radikal verändernden Welt hat er intellektuelle Meilensteine in der Geschichte der Vereinten Nationen gesetzt. Konkret waren es drei Leitlinien, die er für das Zusammenleben der Menschheit entwickelte. Es handelte sich um die wechselseitigen Abhängigkeiten von Frieden, Entwicklung und Demokratie, die er in drei Dokumenten aufarbeitete.

Seine Amtszeit begann mit einer „Agenda für den Frieden“. Diese Aufgabe wurde ihm auf der Tagung des Sicherheitsrats übertragen, die erstmals auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs am 31. Januar 1992 durchgeführt wurde. Boutros Boutros-Ghali legte in weniger als fünf Monaten seine erste Agenda vor. Sie trug den Untertitel „Vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung und Friedenssicherung“. Um einen erneuten Ausbruch von Konflikten zu vermeiden, erweiterte er sie um das Konzept der Friedenskonsolidierung in der Konfliktfolgezeit.

Mit der Einführung dieser weiteren Dimension der Friedenskonsolidierung war es ihm gelungen, die Mitgliedstaaten auf die damit zusammenhängende Notwendigkeit hinzuweisen, den Friedensprozess mit entsprechenden wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und kulturellen Maßnahmen durch die Institutionen des UN-Systems abzusichern. Diese Sichtweise sollte einerseits zu einem „erweiterten Sicherheitskonzept“ führen, weil die weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Probleme sowohl Konfliktursachen als auch Konfliktfolgen darstellen. Andererseits sollte sein Ansatz zur Gründung der Kommission für Friedenskonsolidierung als Nebenorgan von Generalversammlung und Sicherheitsrat und einem ständigen Friedenskonsolidierungsfonds führen, der durch freiwillige Beitragsleistungen finanziert wird.

Auf ausdrücklichen Wunsch der Entwicklungsländer wurde Boutros Boutros-Ghali im Dezember 1992 von der Generalversammlung aufgefordert, als komplementäre Ergänzung zur ersten Agenda auch eine „Agenda für Entwicklung“ vorzulegen. Die Erarbeitung dieser zweiten Agenda sollte weitaus länger dauern, zumal die Zahl der zu konsultierenden Akteure deutlich größer war. Diese „Agenda für Entwicklung“ wurde Mitte 1994 vorgelegt. Es handelte sich um eine neue, eher visionär angelegte Konzeption für eine universale, am Menschen orientierte „Kultur der Entwicklung“. Frieden, Wirtschaft, Umwelt, soziale Gerechtigkeit und Demokratie wurden als fünf eng miteinander verknüpfte Dimensionen der Entwicklung dargestellt. Aber sein Versuch sollte scheitern; die zweite Agenda wurde als zu akademisch-analytisch kritisiert, weil sie keine konkreten Vorschläge zur Reform des UN-System und zur Prioritätensetzung der angestrebten Ziele enthielte.

Daher wurde von ihm Ende 1994 ein weiteres, weitaus kürzeres Dokument mit konkreten politischen Empfehlungen vorgestellt. Obwohl eher diplomatisch-vorsichtig formuliert, gingen diese Empfehlungen einigen Mitgliedstaaten, insbesondere den USA, zu weit, die sich damals gegen die Idee einer internationalen Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung sowie weitere Schuldenerlasse für die Entwicklungsländer aussprachen. Erst nachdem alle strittigen Fragen durch sehr diplomatisch formulierte Kompromisse in einer offenen Arbeitsgruppe der Generalversammlung geklärt wurden, konnte eine neue „Agenda für Entwicklung“ Mitte 1997 von der Generalversammlung ohne förmliche Abstimmung angenommen werden.

Am 20. Dezember 1996, wenige Tage vor dem Ende seiner Amtszeit, legte Boutros Boutros-Ghali die in eigener Initiative erstellte „Agenda für Demokratisierung“ der Generalversammlung vor. Mit dieser dritten Agenda nahm er ein Thema auf, das er bereits in den beiden anderen Dokumenten angesprochen hatte. Dabei betonte er die Rolle „neuer Akteure“, wie Regionalorganisationen, Nichtregierungsorganisationen, Parlamentarier, kommunale Behörden, Hochschulen, Unternehmen, Medien. Jede Gesellschaft müsse Form, Tempo und Charakter ihres Demokratie-Prozesses selbst bestimmen können, aber zugleich müsse auch in die Demokratisierung auf weltweiter Ebene, das heißt in die Vereinten Nationen, investiert werden – ein Argument, das er auch in den folgenden Jahren immer wieder betonte (vgl. hierzu das lesenswerte Interview in Heft 3/2005 unserer Zeitschrift VEREINTE NATIONEN).

Boutros Boutros-Ghali hat sich in einer Phase der beschleunigten Globalisierung trotz aller widrigen Rahmenbedingungen um die Sache der Vereinten Nationen verdient gemacht. In seiner Amtszeit fanden in rascher Folge sieben Weltkonferenzen statt; erinnert sei an den „Erdgipfel“ 1992 in Rio, die Weltkonferenz über Menschenrechte 1993 in Wien, die „Weltbevölkerungskonferenz“ 1994 in Kairo, den „Weltsozialgipfel“ 1995 in Kopenhagen, die „Weltfrauenkonferenz“ in Beijing, den „Städtegipfel“ 1996 in Istanbul und den „Welternährungsgipfel“ 1996 in Rom. Hier ging es um die Verzahnung und Verdichtung des Zusammenwirkens von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zur Bewältigung von weltweiten Problemen.

In seiner Amtszeit stiegen die Zahl der friedenserhaltenden Operationen und die dafür notwendige Finanzierung steil an. Waren es 1990-1991 noch 0,95 Mrd. US-Dollar, so lagen die Ausgaben 1994-1995 bei 6,71 Mrd. US-Dollar. Aber diese Zahlen geben die Realität nicht wirklich wieder, weil Boutros Boutros-Ghali einerseits deutlich höhere Ausgaben forderte, um die geforderten Aufgaben erfüllen zu können, andererseits vor allem die USA mit ihren Zahlungen deutlich im Rückstand waren.

Viele seiner konkreten Vorschläge sollten in seiner Amtszeit nicht mehr verwirklicht werden. Er forderte eine stärkere Inanspruchnahme des Internationalen Gerichtshofs. Er schlug vor, dass dem Generalsekretär nach Ermächtigung durch den Sicherheitsrat ständige Militär- und Polizei-Truppen unterstellt werden. Er wollte ein eigenes Frühwarnsystem unabhängig von den Informationssystemen der Mitgliedstaaten aufbauen. Und er wollte Einkommensquellen für die UN, die unabhängig von den Mitgliedstaaten eingerichtet werden.

Im Jahr 2005 stellte Boutros-Ghali fest, dass die Beziehungen zwischen den USA und den UN in einer tiefen Krise stecken, die am Ende des Kalten Krieges begonnen hatte. Er sagte weiterhin in dem oben genannten Interview: „Mein Fehler als Generalsekretär war, dass ich diese Krise nicht richtig eingeschätzt habe. Ich hatte die Illusion, dass die UN in der Lage sein würden, in der Zeit nach dem Kalten Krieg eine Führungsrolle zu übernehmen“.                                    

Klaus Hüfner