Patriarchat auf dem Teller: Wie Geschlechterungleichheit die Ernährung beeinflusst
Auf der Welt würden 150 Millionen Menschen weniger hungern, wenn Frauen die gleichen Rechte hätten wie Männer. Der geschlechtsspezifische Unterschied in der Ernährungssicherheit hat sich von 2019 bis 2021 mehr als verdoppelt. Im Vergleich waren 126 Millionen Frauen mehr als Männer im Jahr 2021 mäßig oder stark von Ernährungsunsicherheit betroffen.
Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organisation – FAO) bedeutet Ernährungssicherheit, dass jederzeit die vier Aspekte der Ernährung — Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität — gewährleistet sind. Für einen von elf Menschen weltweit sind diese Kriterien nicht ausreichend erfüllt. Nach UN-Berichten waren 2023 rund 733 Millionen Menschen von Hunger betroffen.
Wie Geschlechterungleichheit und Ernährungssicherheit zusammenhängen
Dabei fällt auf: In Ländern mit den höchsten Hungerquoten herrscht auch die größte Ungleichheit zwischen Frauen und Männern. Beispielsweise sind Jemen und Tschad von sehr starkem Hunger betroffen und gleichzeitig die Staaten mit der global größten Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Es gibt verschiedene Ausprägungen davon, wie Geschlechterungleichheit und Ernährungssicherheit zusammenhängen. Frauen sind stärker von Armut betroffen und erhalten für gleiche Arbeit immer noch geringeren Lohn als Männer (Gender Pay Gap). Beispielsweise sind Frauen im Bereich der Landwirtschaft zwar stark vertreten, haben jedoch nur sehr geringe Chancen auf Kredite oder Landbesitz. Das wird auch als strukturelle Benachteiligung bezeichnet. Frauen leiden außerdem mehr unter Krisen, wie klimatischen Veränderungen oder kriegerischen Auseinandersetzungen.
Doch auch weniger bekannte Gründe spielen eine entscheidende Rolle, wie patriarchale Normen und Verhaltensmuster. Das sind gesellschaftliche ‚Regeln‘ und Werte, die Frauen einen niedrigeren Status als Männern zuschreiben. Daraus wird ein ‚geringeres Anrecht‘ auf Nahrung für Frauen abgeleitet und es entstehen langfristige Ernährungsmuster, die auch als geschlechtsspezifische Ernährungsgewohnheiten bezeichnet werden.
Die Verteilung von Nahrungsmitteln in Haushalten läuft Ernährungsbedürfnissen von Frauen zuwider
Ein wichtiger Aspekt ist die Verteilung von Nahrungsmitteln im Haushalt. Oftmals essen Frauen als letztes und am wenigsten, das heißt, männliche Familienmitglieder werden bei der Verteilung von Nahrungsmitteln bevorzugt. Beispielsweise gaben in Libanon während der Covid-19-Pandemie 85 % der Frauen an, kleinere Portionen zu essen, aber nur 57 % der Männer. Auch bei der Qualität verzichten Frauen häufiger und schneller auf gesunde Nahrungsmittel (66 % vs. 43 % der Männer). Ein solches Verhalten wird durch patriarchale Normen unterstützt und nicht in Frage gestellt. Dem zugrunde liegt der Mythos, dass Frauen weniger qualitativ hochwertige Nahrung benötigen, da sie körperlich weniger leistungsfähig sind und eine geringere Muskelmasse besitzen. Diese Annahme lässt die spezifischen Ernährungsbedürfnisse von Frauen außer Acht.
Tatsächlich benötigen insbesondere Frauen eine proteinreiche Ernährung mit vielen Mikronährstoffen und Mineralien. Laut der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation - WHO) wird aufgrund der Menstruation besonders viel Eisen und Folsäure benötigt, um Blutarmut (Anämie) vorzubeugen. Häufig weisen Frauen jedoch einen hohen Mangel an Mikronährstoffen und auf. Beispielsweise sind 48,1% der Frauen in Indien von Blutarmut betroffen. Während einer Schwangerschaft sind außerdem viele Kalorien und Proteine wichtig. Frauen erhalten bei den Mahlzeiten im Schnitt aber weniger bis gar keine proteinreichen Nahrungsmittel (Fleisch, Fisch oder Eier).
Diese Umstände verschärfen sich, je stärker patriarchale und kulturelle Gewohnheiten sind. Laut des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund - UNICEF) führt die traditionelle Arbeitsteilung im Haushalt – die ein Merkmal des Patriarchats ist – zu einem schlechteren Zugang von Frauen zu nährstoffreicher Nahrung. Die fehlende Unterstützung des Mannes im Haushalt und bei der Kinderbetreuung ist ein weiterer Grund für eine unzureichende Ernährung. Auch die Bewegungsfreiheit spielt eine große Rolle. Sind Frauen in ihrem Alltag stark eingeschränkt, verringert dies auch die Möglichkeit, vielfältige Lebensmittel zu beschaffen. Sogar die Anzahl sexualisierter Gewalttaten gegenüber Frauen steigt, wenn die Ernährungssicherheit nicht gegeben ist – psychologisch erklärt als Kompensation für nicht vorhandenes Essen. Laut UNICEF wird Ernährungsunsicherheit häufig über Generationen hinweg weitergegeben.
Der Weg zur Ernährungssicherheit: Wie können wir alle satt werden?
Ein Baustein, um den Teufelskreis der Ernährungsunsicherheit zu unterbrechen, ist gezielte Bildung. Studien der FAO zeigen, dass der Zugang zu Informationen die Ernährungsgewohnheiten verändert und damit einhergehend patriarchale Strukturen aufbrechen kann. Zum Beispiel sinkt in Haushalten, in denen Frauen berufstätig sind, die Wahrscheinlichkeit von Ernährungsunsicherheit um 11,3 %. Der Zugang zu Informationen ermöglicht eine effektivere Nahrungsmittelproduktion.
Diesen Ansatz verfolgt ein Projekt, an dem UN Women in Kolumbien arbeitet: In Kursen lernen Frauen, wie sie Agrarflächen effizient bewirtschaften können, sie werden ermächtigt, selbst über den Anbau und die Herstellung von Nahrungsmitteln zu entscheiden. Hierdurch steigt die Ernährungssicherheit für diese Frauen.
Ein weiteres Projekt von UN Women konzentriert sich auf den Rückgang geschlechtsspezifischer Gewalt, denn nachweislich steigt mit der Abnahme von Gewalt gegen Frauen auch die Ernährungssicherheit. Beide Projekte leisten somit Aufklärungsarbeit in verschiedenen Bereichen geschlechtsbedingter Benachteiligung. Das Auflösen patriarchaler Strukturen trägt also in vielerlei Hinsicht zur Ernährungssicherheit bei.
Geschlechtergerechtigkeit wirkt sich positiv auf andere Ziele für nachhaltige Entwicklung aus
Doch das Überwinden patriarchaler Strukturen führt – über die Ernährungssicherheit hinaus – auch in anderen Bereichen nachhaltiger Entwicklung zu Fortschritten. Dies zeigt eine Überprüfung des Internationalen Forschungsinstituts für Ernährungspolitik (International Food Policy Research Institute – IFPRI) die ergeben hat, dass sich Geschlechtergerechtigkeit und andere Bereiche nachhaltiger Entwicklung gegenseitig positiv bedingen.
Auch die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen zeigen diese Verknüpfung auf. Die Ziele 2 ‘Kein Hunger’ und 5 ‚Geschlechtergleichheit‘ verdeutlichen, dass patriarchale Strukturen mitverantwortlich für die wirtschaftliche Abhängigkeit von Frauen sind und einen Ausstieg aus der Armut erschweren. Durch den Zugang und die gerechte Verteilung von Ressourcen kann diesem Nachteil entgegengewirkt werden – das wiederum fördert das Ziel ,Weniger Ungleichheiten‘. Eine höhere Ernährungssicherheit trägt zu SDG 3 ‚Gesundheit und Wohlergehen‘ bei und fördert SDG 12 ‚Nachhaltige/r Konsum und Produktion‘. Projekte wie das von UN Women in Kolumbien setzen hier an und befähigen Frauen, mit ihrem regional-spezifischen Wissen selbst für ihre Ernährungssicherheit zu sorgen und Bewusstsein für verantwortungsvollen Konsum und Nachhaltigkeit zu entwickeln. Dieser Zusammenhang schafft eine neue Perspektive: patriarchale Strukturen müssen dringend aufgelöst werden, damit Ernährungssicherheit gewährleistet ist und die Ziele für nachhaltige Entwicklung erreicht werden können.
Miriam Wiesenfarth