Immer mehr ukrainische Minenräumerinnen im Einsatz
Im westkosovarischen Peja stehen an einem klaren Herbstnachmittag 24 Ukrainerinnen und Ukrainer – vor allem Frauen – im Kreis um eine rostige FAB-500-Bombe aus der Sowjetzeit. Sie symbolisiert zugleich ein Trainingswerkzeug und eine düstere Erinnerung an den anhaltenden Krieg in der Ukraine. Die Mission der 24 Auszubildenden im Mine Action & Training (MAT)-Kosovo-Zentrum. Nicht weniger entscheidend als die Frontkämpfe: Landminen, nicht explodierte Bomben und Granaten von Feldern, Straßen und Ruinen zu entfernen – die tödlichen Hinterlassenschaften des Krieges.
Das Ausmaß dieser Aufgabe ist enorm. Fast drei Jahre nach Beginn der russischen Invasion gilt die Ukraine laut den Vereinten Nationen als das am stärksten verminte Land der Welt. Für diese Frauen – von der Barista bis zur CEO – hat der Krieg das Leben radikal verändert. Jetzt sind sie vereint in ihrem Ziel: die fruchtbaren Felder ihrer Heimat zurückzugewinnen, einst bekannt als "Kornkammer der Welt".
Ein Job für alle Geschlechter
Bis vor Kurzem war das Minenräumen eine Männerdomäne, da Frauen aufgrund sowjetischer Traditionen ausgeschlossen wurden. Heute machen sie 30 % der rund 4000 Minenräumerinnen und Minenräumer der Ukraine aus, eine Zahl, die sich seit 2022 mehr als verdoppelt hat. Nun sind diese 16 Frauen, die schon in der Ukraine eine Grundausbildung in Minenräumen absolviert haben, im MAT-Kosovo-Zentrum in Peja, um ihre Fähigkeiten weiter zu vertiefen. Dieses international anerkannte Zentrum hat seit Kriegsbeginn 436 Ukrainerinnen und Ukrainer ausgebildet, darunter 87 Frauen, unterstützt durch internationale Spenden.
Die Schulung folgt den von den Vereinten Nationen empfohlenen internationalen Standards für Minenaktionen. Im MAT-Zentrum befinden sich die Auszubildenden mitten in einem fünfwöchigen Kurs der Stufe 3 zur Entsorgung explosiver Kampfmittel (EOD), der zweithöchsten Qualifikation auf diesem Gebiet. Die heutige Lektion behandelt die Theorie zur Entschärfung von ‘voll funktionsfähigen’ Bomben wie den 500-Kilogramm-Sprengkörpern, die die Ukraine übersähen. Der Lehrplan umfasst die Identifizierung von Bomben, die sichere Neutralisierung von Sprengstoffen und den Umgang mit Meldungen über verdächtige Objekte.
"Das hier ist das einzige Teil, das ‚Boom‘ macht", erklärt Ausbilder Stew Burgess, ein ehemaliger Waffenexperte der britischen Luftwaffe, und zeigt auf den Zünder der Bombe. "Alles andere ist Antrieb und Sprengladung." Manche Zünder sind mit Fallen versehen oder äußerst instabil, sodass sie schon beim geringsten Kontakt detonieren. "Sie sind dafür gemacht, zu töten."
Anastasiia Minchukova, 23, übersetzt seine Worte vom Englischen ins Ukrainische. Die ehemalige Sprachstudentin war eine der ersten acht Frauen, die im April 2022 in Peja trainierten. Seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 wusste sie: "Wenn ich erwachsen werde, werde ich keine Wahl haben; ich werde kämpfen müssen." Weil sie aufgrund ihres Alters nicht an die Front durfte, entschied sie sich, ihren Beitrag durch Minenräumen zu leisten. "Eine Mine interessiert sich nicht dafür, ob du ein Mann oder eine Frau bist", sagt sie. "Wir brauchen jeden, der willens und fähig ist. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, auf ihre Frauen zu verzichten."
Nika Kokareva, 40, leitet seit sechs Monaten ein Team der Mine Advisory Group (MAG), das ein riesiges Sonnenblumenfeld in der Nähe ihrer Heimatstadt Mykolajiw räumt. "Ich will lernen, wie man Zünder entfernt, Sprengungen durchführt und entscheidet, ob ein Sprengkörper sicher bewegt werden kann", sagt sie. Die ehemalige Hotelangestellte wandte sich den Minenräumen zu, nachdem sie die Zerstörungen des Krieges hautnah miterlebt hatte. "Dieser Kurs ist eine einmalige Chance", sagt sie. "Das Land meiner Stadt zu räumen bedeutet mir alles. Danach gehe ich in den Osten. Wir haben zehn bis zwanzig Jahre Arbeit vor uns."
Oksana Omelchuk, 35, wechselte vom Naturschutz zur Entminung, nachdem russische Bomben ihre Arbeit in Nationalparks unmöglich gemacht hatten. "Es ist schwer, sich auf die Natur zu konzentrieren, wenn Menschen ihr Zuhause und ihr Leben verlieren", sagt sie. Die Arbeit auf Feldern nahe Mykolajiw für die MAG ist für sie "gesellschaftlich wichtig und hält mich gleichzeitig in der Natur".
Barrieren überwinden, Zukunft gestalten
Der Aufstieg von Frauen in Minenräumen markiert einen tiefgreifenden Wandel. Auf dem 20. Internationalen Symposium für Minenaktionen in Dubrovnik im vergangenen April betonte Ben Remfrey, Gründer des MAT Kosovo, die transformative Rolle von Frauen in der Minenräumung. Noch 2016 und 2017 wurden dort lediglich nur zwei Frauen ausgebildet. Bis Ende 2024 werden es über 84 Ukrainerinnen sein. Mit Unterstützung von Initiativen wie der NATO-Strategie zur Agenda ‘Frauen, Frieden und Sicherheit’, die auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats basiert, hat die Ukraine Geschlechtergerechtigkeit als festen Bestandteil ihrer Minenräumpolitik etabliert. Studien belegen, dass gemischte Teams effektiver arbeiten und betroffene Gemeinschaften besser einbeziehen. Internationale Gelder – darunter 70 Millionen US-Dollar, zugesagt auf der Ukraine Mine Action Conference, auch vom UN-Entwicklungsprogramm (United Nations Development Programme – UNDP) – haben die Ausbildungsprogramme ukrainischer Frauen beschleunigt.
Für Iryna Kustovska, Absolventin des MAT-Zentrums, ist dieser Wandel revolutionär. "Früher waren Frauen in Minenräumen ‘eine Sensation’. "Jetzt heißt es einfach: ‘Du bist Minenräumerin’", sagt sie. Durch den anhaltenden Krieg in der Ukraine und der daraus resultierenden Expansion des Sektors wächst der Bedarf an Fachkräften. “Leider wird humanitäres Minenräumen für Jahrzehnte eine Priorität bleiben”, sagt Kustovska.
Eine Mission über den Krieg hinaus
Nur wenige Wochen nach ihrem Abschluss im Kosovo ist Nika Kokareva bereits wieder auf den Feldern bei Mykolajiw im Einsatz. Der Winter naht, und sie arbeitet mit Hochdruck: “Wir müssen die Felder räumen – die Landwirte warten”, sagt sie. Doch einige Bauern riskieren, ungeräumte Felder zu bestellen, was eine große Gefahr darstellt.
Weiter östlich, nahe Isjum, führt die 55-jährige Halina Burkina ihr Team durch zerstörte Dörfer, die unter den Kämpfen und der Besatzung gelitten haben. Die Arbeit ist anstrengend, mühsam und gefährlich: “Alles, was abgefeuert werden konnte, flog hier”, beschreibt sie die Überreste – von Patronen bis zu Raketen. An manchen Tagen räumt sie weniger als einen Meter.
“Hier draußen spielt es keine Rolle, ob du Mann oder Frau bist. Alle werden müde, schmutzig und halten sich an dieselben Regeln”, sagt Burkina. Für Kokareva, Burkina und die wachsende Zahl ukrainischer Frauen im Minenräumungsbereich ist diese Arbeit weit mehr als ein Beruf – sie ist eine Mission, die Zukunft der Ukraine zu sichern. “Es fühlt sich gut an, Dinge zu zerstören, die Menschen töten”, sagt Kokareva. “Ein kleiner Schritt, um unser Land zurückzugewinnen.”
Isabelle de Pommereau.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Journalistin Yulia Surkova erstellt.